Energie:Risse im System

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Das Atomkraftwerk in Cattenom, rund zwölf Kilometer entfernt von der deutschen Grenze, ist nur eines, in dem wegen Rissen an sicherheitskritischen Leitungen derzeit Reaktoren stillstehen. (Foto: Sebastien Berda/AFP)

Im Jahr 2022 produzierten französische Atomkraftwerke so wenig Strom wie seit 30 Jahren nicht. Ein Grund dafür sind Risse in sicherheitsrelevanten Leitungen. Ein Kenner der französischen Atomindustrie kritisiert: Diese Risse seien nur ein Symptom eines "degradierten" Kraftwerksparks.

Von Christian J. Meier

Frankreichs Atomkraftwerke schwächeln: Schon das ganze Jahr 2022 über liefern sie deutlich weniger Strom als üblich. Die Strom-Exportnation Frankreich importiert phasenweise elektrische Energie aus Deutschland.

Damit nicht genug: "Absolut kritisch" könne die Situation werden, falls es einen kalten Winter gibt, meint Mycle Schneider, internationaler Atompolitik-Analyst, der in Frankreich lebt. Fast ein Drittel der französischen Wohnungen und Häuser werden elektrisch beheizt.

Schlagzeilen machte der Stromengpass in Frankreich vor allem im Sommer, da die Meiler auch wegen der Hitze gedrosselt wurden. Doch die Misere dauert an. Während des Oktobers leisteten französische Reaktoren weniger als 30 Gigawatt statt der in diesem Monat üblichen gut 40 Gigawatt, wie das Marktanalyseunternehmen Kpler mitteilt. Besserung ist nicht in Sicht. Anfang November korrigierte der Energiekonzern EDF seine bisherige Jahresprognose für 2022 nach unten.

Die kritischen Leitungen sind eigentlich als Sicherheitsvorkehrungen gedacht

Eine wichtige Ursache für die anhaltende Stromknappheit sind Risse in sicherheitsrelevanten Rohrleitungen mehrerer Reaktoren, die zu Abschaltungen, Inspektionen und aufwendigen Reparaturen führen. Die ersten Risse wurden im Dezember vergangenen Jahres in einem Reaktor des Kraftwerks Civaux entdeckt. Daraufhin wurden drei baugleiche Reaktoren abgeschaltet. "Vorsorglich", lobt Mycle Schneider. An zwei davon zeigten sich später ebenfalls Risse. Bald entdeckten Inspektoren weitere Risse an Reaktoren eines anderen Typs, von dem Frankreich zwölf besitzt. Diese seien nicht alle vorsorglich heruntergefahren worden, stellt Schneider fest. Für ihn ein Zeichen, dass der Betreiber EDF zugunsten der Versorgungssicherheit Abstriche bei der Sicherheit mache.

Um Schneiders These einzuordnen, lohnt ein Blick auf das Phänomen. Der Reaktorbehälter ist mit Wasser gefüllt. Dieses erhitzt sich durch die Energie, die bei der Kernreaktion frei wird. Das heiße Wasser strömt durch einen Rohrkreislauf zu einem Wärmetauscher. Nachdem es seine Hitze dort abgegeben hat, fließt es zurück in den Reaktorbehälter. Weil es die Wärme zur weiteren Nutzung abtransportiert, nennt man es Kühlwasser.

Ein Leck im Reaktorbehälter kann zu einem sogenannten Kühlwasserverluststörfall führen. Der Reaktor würde abgeschaltet. Dennoch entstünde durch den Zerfall radioaktiver Spaltprodukte weiterhin Hitze. Wenn zu viel Kühlwasser aus dem Leck entwichen ist, kann die Hitze nicht mehr abtransportiert werden, und es kann schlimmstenfalls zur Kernschmelze kommen.

Um das zu verhindern, dockt ein weiteres Rohrsystem an den Kühlwasserkreislauf an, durch das im Fall eines Lecks neues Kühlwasser nachfließt. An diesem "Sicherheits-Einspeisesystem" sind nun die Risse aufgetreten. Das sei sicherheitsrelevant, schreibt die Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit in Garching auf ihrer Website. Würden die Risse im Betrieb eine gewisse Größe überschreiten, könnte die Leitung brechen, ein Kühlwasserverluststörfall würde eintreten. Gewissermaßen erweist sich die Sicherung als Achillesferse.

EDF hat betroffene Rohrstücke herausgenommen, um die Risse im Labor zu untersuchen. Sie entstehen demnach durch mechanische Spannungen, wie sie durch Temperaturunterschiede auftreten, vor allem nahe Schweißnähten. Das Design der Rohrsysteme, das bei verschiedenen Reaktortypen unterschiedlich ist, spielt auch eine Rolle. Die Risse waren weniger als einen bis sechs Millimeter tief, etwa ein Fünftel der Gesamtdicke von 30 Millimeter. Über die vier bestätigten Fälle von Rissen hinaus wurden bislang Hinweise auf vier weitere Fälle gefunden, nur bei einem der Reaktoren gibt es Entwarnung. EDF will bis 2025 alle Reaktoren mit einem eigens entwickelten Ultraschallverfahren auf Risse hin prüfen.

Die Mehrzahl der Reaktoren sei kaum anfällig, meint die Atombehörde

Läuft die französische Flotte bis dahin unter erhöhtem Risiko? Nein, meint die französische Behörde für nukleare Sicherheit. EDFs Prüfstrategie sei "angemessen", schrieb sie im Juli. Nur zwei Reaktortypen seien für die Risse anfällig, vor allem wegen des Designs ihres Sicherheits-Einspeisesystems. Diese würden priorisiert untersucht. Die anderen Typen, die die Mehrzahl der Meiler ausmachen, seien "wenig bis sehr wenig" anfällig für diese Art Risse.

Mycle Schneider glaubt indessen nicht, dass die Krise damit ausgestanden ist. Sie sei "viel weitgreifender". Das Grundproblem sei ein "degradierter" Kraftwerkspark. "Die Risse sind nur obendrauf gekommen", sagt der Atomkraftexperte. "Schon seit mehreren Jahren sinkt die Stromproduktion der französischen Atomkraftwerke stetig", betont Schneider, der jährlich Statistiken zur weltweiten Nuklearindustrie veröffentlicht. Die historisch höchste Jahresproduktion Frankreichs lag bei 430 Terawattstunden im Jahr 2005. Im Jahr 2020 lag sie fast hundert Terawattstunden niedriger. Allein dieses Minus ist deutlich größer als die jährliche Atomstromproduktion Deutschlands. Dieses Jahr wird dieser Minusrekord laut Prognosen von EDF noch deutlich unterschritten.

Wartungen, die länger dauern als geplant, hätten zu vielen ungeplanten Totalausfällen in der Stromproduktion geführt, urteilt Schneider. "Der Betreiber hat die Kontrolle über die Produktionsmittel verloren." Ein strikter Sparkurs seit 20 Jahren - es fehlten oft Ersatzteile - und eine knappe Personaldecke hätten dazu beigetragen. Der Betrieb der französischen Atomkraftwerke gehe nun zunehmend auf Kosten der Sicherheit, kritisiert er. Als Beispiel nennt Schneider einen Meiler in Cattenom. EDF wollte ihn trotz identifizierter Risse schnell wieder anfahren und die Schäden erst bei einer geplanten Abschaltung im nächsten Jahr reparieren. Allerdings drang der Konzern damit bei der Aufsichtsbehörde nicht durch, die die sofortige Reparatur verlangt, was den Stillstand bis mindestens Ende Februar 2023 verlängert.

Das derzeitige Schwächeln der französischen Atomkraftwerke könnte sich also wiederholen. Im Februar 2022 nannte der französische Präsident die Nutzung der Atomkraft in Frankreich ein "großes Abenteuer". Eigentlich wollte er damit Lust auf eine "Renaissance" dieser Energieform machen. Neun Monate später bietet sich eine andere Interpretation an.

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