Artensterben:In der Natur ist etwas aus dem Gleichgewicht geraten

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Agrarlandarten wie der Kiebitz sind in Deutschland selten geworden. (Foto: Sina Schuldt/dpa)
  • Weil Insekten massenhaft sterben, geht auch die Zahl der Vögel zurück.
  • Diesen Zusammenhang belegen neue Auswertungen von Wissenschaftlern.
  • Viele Vogelarten können ihren Nachwuchs nicht mehr durchbringen, weil sie nicht genügend Insekten als Nahrung finden.
  • Vor allem die intensive Landwirtschaft trägt nach Ansicht von Ökologen zum Verlust der Artenvielfalt bei.

Von Tina Baier

Das Insektensterben in Deutschland musste Konsequenzen haben. So viel war klar. Was Rainer Dröschmeister herausgefunden hat, ist dennoch erschreckend. Als im Herbst des vergangenen Jahres in der Fachzeitschrift Plos one die "Krefelder Studie" erschien, die belegte, dass seit 1989 in weiten Teilen Deutschlands mehr als zwei Drittel der fliegenden Insekten verschwunden sind, verglich der Vogelschutzexperte am Bundesamt für Naturschutz (BfN) in Bonn die Daten der Insektenforscher mit dem, was aus dem jährlichen Monitoring der Brutvögel in Deutschland bekannt ist. "Die Entwicklungen stimmen exakt überein", sagt er.

Seine Diagramme zeigen den Zusammenhang zwischen dem Verschwinden der Insekten und dem Verschwinden jener Vögel, die Insekten fressen. 50 Prozent dieser Arten sind ebenfalls stark zurückgegangen, manche um mehr als ein Drittel. "Wir haben uns damals gefragt, warum vor allem Vögel, die kleine Insekten fressen, solche Probleme haben", sagt Sven Trautmann vom Dachverband Deutscher Avifaunisten (DDA). Jetzt gibt es eine Erklärung.

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Von den 248 Vogelarten, die in Deutschland brüten, ernähren sich 80 Prozent von tierischer Kost, die Hälfte von ihnen bevorzugt Insekten. Viele Arten, die als Erwachsene etwas anderes fressen, füttern zumindest ihre Jungen mit den Kerbtieren. "Der Insektenschwund hat unter anderem zur Folge, dass ein Teil der Brut schlicht verhungert, weil die Eltern nicht genügend Nahrung finden, um alle durchzufüttern", sagt Dröschmeister.

Die intensive Landwirtschaft lässt den Tieren keinen Raum

Anders als bei den Insekten, über deren Zahl es außer der Krefelder Studie nur wenige Langzeituntersuchungen gibt, weiß man über die Entwicklung der Vogelbestände in Deutschland ziemlich genau Bescheid. Seit 1990 erfasst der DDA alljährlich systematisch die Zahl der Vogelarten, die in Deutschland brüten. Das ist nur mithilfe vieler ehrenamtlicher Hobbyornithologen möglich, die viermal im Jahr 2637 über ganz Deutschland verteilte Probeflächen ablaufen und alle Vögel notieren, die sie dort sehen oder hören. Das Programm wurde unter anderem deshalb ins Leben gerufen, weil Ende der 1980er Jahre klar wurde, dass es nicht nur seltenen und spektakulären Vogelarten wie Weißstorch und Steinadler schlecht ging, sondern auch so manchem Allerweltsgefieder. Zudem seien Vögel ausgezeichnete "Indikatoren für die Qualität einer Landschaft", sagt Trautmann: Geht es den Vögeln schlecht, kann man davon ausgehen, dass auch andere Tiere ums Überleben kämpfen, und dass die Artenvielfalt insgesamt abnimmt. Die Daten des DDA belegen eine dramatische Entwicklung: "Bis 2009 ging circa jede dritte Vogelart in ihrem Bestand zurück und seitdem ist keine fundamentale Trendwende zu erkennen", sagt Trautmann. "Der Schwund geht weiter", bestätigt auch Dröschmeister.

Besonders besorgniserregend ist die Lage der sogenannten Agrarlandarten. Der Bestand des Kiebitzes beispielsweise ist seit 1990 um drei Viertel eingebrochen. Auch nach 2009 ging es mit dieser Spezies weiter kontinuierlich bergab, mit einem ganz leichten Aufwärtstrend im Jahr 2015. Ähnlich schlecht sieht es für die Feldlerche aus, deren Bestände sich im selben Zeitraum halbiert haben. Der Grund dafür ist nicht allein das Insektensterben. "Es gibt ein ganzes Bündel von Ursachen, die wichtigsten hängen mit der Landwirtschaft zusammen", sagt Dröschmeister.

Ganz banal werden die Nester von Vögeln wie der Feldlerche, die direkt auf dem Ackerboden brüten, von Geräten der intensiven Landwirtschaft überfahren. Dazu kommt die starke Düngung, die Gras und Getreide innerhalb kürzester Zeit sehr hoch wachsen lässt. Die Vögel sitzen dadurch mit ihrer Brut im Dunkeln und Feuchten, was für viele Arten ein Problem ist. Der dichte Bewuchs der Ackerflächen verschärft zudem den Mangel an Insektenfutter, weil die Vögel an ihre Nahrung etwa in einem dichten Maisfeld gar nicht mehr herankommen.

Dass der Einsatz von Schädlingsbekämpfungsmitteln die Zahl der Insekten dezimiert, liegt auf der Hand. Ob die Pestizide den Vögeln auch direkt schaden, wenn sie damit in Kontakt kommen, ist wissenschaftlich noch nicht erwiesen. "Es geht nicht um Vögel, die unberührte Natur zum Überleben brauchen", sagt Trautmann. Sondern um Arten, die bereits an eine extensive Bewirtschaftung durch den Menschen angepasst waren. Sogar diese Spezies haben Probleme mit der intensiven Landwirtschaft, weil sie ihnen keinen Raum zum Überleben lässt.

Extrem negativ hat sich auf viele dieser Vogelarten ausgewirkt, dass die Zahl der so genannten Brachflächen, die nicht bewirtschaftet werden, seit dem Jahr 2007 stark zurückgegangen ist. Vor diesem Zeitpunkt hat die Europäische Union solche Flächen finanziell gefördert, mit dem Effekt, dass teilweise mehr als ein Zehntel der Ackerfläche in Deutschland unberührt blieb und Unterschlupf und Nahrung für Vögel bot. Seit diese Förderung eingestellt wurde, werden die meisten dieser Flächen wieder intensiv bewirtschaftet. Im Jahr 2015 lagen nach Informationen des BfN nur noch 1,7 Prozent der Ackerfläche in Deutschland brach. "Die Bestandskurven vieler Arten spiegeln diese Entwicklung wider", sagt Trautmann. Die Zahl der Grauammern zum Beispiel hat Mitte der 1990er-Jahre, als die Förderung der Brachflächen begann, deutlich zugenommen. 2007, als sie wieder eingestellt wurde, ist der Bestand dann erneut eingebrochen. Vogelschützer nennen das den "Erneuerbare-Energien-Knick", weil die ehemaligen Brachflächen jetzt oft genutzt werden, um dort zum Beispiel Raps für Biodiesel oder Mais für E1o-Benzin und Biogasanlagen anzubauen.

Etwas besser als auf dem Land geht es Vogelarten, die gerne in unmittelbarer Nähe des Menschen leben. Die drei häufigsten Spezies in Siedlungen und Städten sind Amseln, Buchfinken und Spatzen. Nach den Daten des DDA gibt es in manchen Jahren zwar weniger Amseln als in anderen. Über einen längeren Zeitraum betrachtet ist der Bestand dieser Art aber stabil geblieben. Ganz ähnlich sieht es beim Buchfink aus. Und der Spatz, der in den 1990er-Jahren und zu Beginn des neuen Jahrtausend stark zurückgegangen ist, erholt sich seit dem Jahr 2009 langsam wieder.

Noch gibt es in Deutschland mehr Vögel als Menschen

Weniger gut sieht dagegen die Entwicklung der Stare aus. Die für ihre riesigen Schwärme und ihr Talent als Stimmenimitatoren bekannten Vögel sind zwar immer noch relativ häufig. Doch die Daten des DDA zeigen eindeutig, dass die Star-Population Jahr für Jahr zurückgeht. Auch die Girlitze, deren Ruf klingt wie ein verrosteter Kinderwagen, werden seit Ende der 1990er-Jahre kontinuierlich weniger. Dem Mauersegler geht es kaum besser. Neben dem Insektensterben leiden diese Arten auch unter einem Mangel an Brutplätzen: In sanierten und wärmegedämmten Gebäuden gibt es für diese Tiere keine Nischen oder Höhlen mehr, in die sie ihre Eier legen könnten. Gute Nachrichten gibt es dagegen von Vogelarten, die in den Wäldern Deutschlands leben. Sowohl mit dem Schwarzstorch als auch mit dem Kleiber geht es seit Jahren bergauf. Dasselbe gilt für den Mittelspecht.

Tatsache ist aber, dass 118 der 248 in Deutschland brütenden Vogelarten gefährdet sind und deshalb auf der "Roten Liste der Brutvögel Deutschlands" stehen, die im Auftrag des Deutschen Rats für Vogelschutz herausgegeben wird. "Das Ziel, den Verlust der biologischen Vielfalt aufzuhalten, kann bereits jetzt als gescheitert angesehen werden, da die Anzahl der in ihrem Bestand gefährdeten Arten zugenommen hat", sagt Trautmann.

Nach Ansicht vieler Vogelschützer liegt das unter anderem daran, dass es in Deutschland zwar auf dem Papier 742 Vogelschutzgebiete gibt, dort aber in der Praxis oft wenig zum Schutz der Vögel getan wird. Für viele dieser Gebiete gibt es weder einen Managementplan noch irgendwelche Einschränkungen für die Landwirtschaft. Es darf vielerorts uneingeschränkt gedüngt und Pestizid ausgebracht werden, Schutzgebiet hin oder her.

Wie das Insektensterben zeigt auch der Schwund der Vögel, dass in der Natur etwas grundsätzlich aus dem Gleichgewicht geraten ist. Die Politik ist bestens darüber informiert, dass nicht nur Insekten und Vögel, sondern auch viele andere Tiere Gefahr laufen zu verschwinden. Das zeigt ein Blick in die "Naturschutzoffensive 2020" des Bundesumweltministeriums. Bezogen auf alle Arten heißt es dort: "Insgesamt ist nur bei 25 Prozent der Arten der von der EU geforderte günstige Erhaltungszustand erreicht, 29 Prozent zeigen einen schlechten und 31 Prozent einen unzureichenden Erhaltungszustand."

Noch gibt es in Deutschland mehr Vögel als Menschen. Auf jeden der etwas mehr als 80 Millionen Einwohner kommt ungefähr ein Vogelpaar. Höchste Zeit, etwas zu unternehmen, damit sich das Verhältnis nicht irgendwann umkehrt.

© SZ vom 03.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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