Anders Behring Breivik:Ideologie und Wahnsinn

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Psychopath! Wahnsinniger! Verrückter! Schnell war die Öffentlichkeit dabei, ein Urteil über die geistigen Fähigkeiten und die Psyche des Massenmörders Anders Behring Breivik abzugeben. Doch was steckt überhaupt hinter den Begriffen - und kann ein Geistesgestörter ein solches Verbrechen überhaupt planen?

Markus C. Schulte von Drach

Kaum war das Manifest des Massenmörders Anders Behring Breivik bekannt geworden, wurde davor gewarnt, ihn als einen Psychopathen, einen Verrückten oder Verwirrten darzustellen. Schließlich hat er über Jahre an der Rechtfertigung seines Verbrechens gefeilt: Ein Manifest von mehr als 1500 Seiten, in dem Breivik sein Weltbild ausbreitet - eine Verschwörungstheorie, die sich speist aus einer Vielzahl von überwiegend antiislamischen, nationalistischen Quellen.

Rosen schwimmen in der Nähe der Insel Utøya, wo Anders Behring Breivik mindestens 68 Menschen getötet hat. Acht weitere Menschen hat er in Oslo mit einer Bombe umgebracht. Ist er ein Verrückter? (Foto: AP)

Manchen treibt die Sorge um, eine Einschätzung Breiviks als verrückten Einzelgänger könnte die reale Bedrohung verharmlosen, die von dieser Seite ausgeht. Und spricht nicht schon seine akribische Vorbereitung und seine planmäßiges Vorgehen dafür, dass er nicht geistesgestört sein kann?

Tatsächlich ist die menschliche Psyche zu kompliziert und die Merkmale, die mit verschiedenen Geisteskrankheiten und Persönlichkeitsstörungen zusammenhängen, zu vielfältig für eine solche schnelle Einschätzung der Psyche des Massenmörders Breivik.

Natürlich gibt es Menschen, die aufgrund einer Krankheit oder Störung verwirrt sind - wenn man den Begriff synonym für einen schwerwiegenden Realitätsverlust verwendet. In seltenen Fällen kommt es vor, dass ein solcherart "verwirrter" Mensch auch eine Gefahr für andere darstellt. In der Vergangenheit ist es tatsächlich zu Attentaten geistig verwirrter Personen auf einzelne Politiker gekommen. Bekannte Fälle sind zum Beispiel der Messerangriff auf Oskar Lafontaine und die Schüsse auf Wolfgang Schäuble 1990. Auch Mijailo Mijailovic, der Mörder der schwedischen Außenministerin Anna Lindh 2003, und Jared Loughner, der 2011 die Abgeordnete des US-Repräsentantenhauses Gabrielle Gifford schwer verletzte, gehören offenbar in diese Gruppe.

Obwohl der Verdacht naheliegt, dass solche Attentate auf Politiker einen politischen Hintergrund haben, ist das bei tatsächlich "verwirrten" Tätern kaum der Fall. Die Opfer wurden eher aufgrund ihrer Prominenz zum Ziel, ähnlich wie auch die Ex- Beatles John Lennon und George Harrison oder die Tennisspielerin Monica Seles und der Bundesligaspieler Oliver Möller.

Niemand kann jetzt schon sagen, wie stark der Realitätsverlust bei Anders Behrens Breivik ist. Ihn einfach nur als geistig verwirrten Täter zu bezeichnen, erscheint angesichts seines geplanten Vorgehens und seines Manifests aber wohl nicht angemessen. Menschen, deren "Verwirrung" zum Beispiel auf eine schwere Schizophrenie oder eine manisch-depressive Psychose zurückgeht, sind zu einem solchen Verhalten kaum in der Lage - wenn es auch Ausnahmen gibt, wie etwa der historische Fall des Ernst Wagner zeigt.

Ist Anders Behring Breivik aber ein Psychopath? Tatsächlich wird der Begriff in der forensischen Psychiatrie immer seltener verwendet, genauso wie der Begriff Soziopath. Und wenn Fachleute ihn benutzen, beziehen sie sich in der Regel auf eine besonders schwere Form der sogenannten dissozialen oder antisozialen Persönlichkeitsstörung.

Für Psychopathen wurden von US-Wissenschaftlern unter anderem folgende Eigenschaften aufgelistet:

[] Sie können charmant sein, allerdings nur oberflächlich.

[] Sie entwickeln keine Schuldgefühle.

[] Sie sind verantwortungslos, unehrlich, egozentrisch, unfähig zu langfristigen Beziehungen.

[] Sie lernen nicht aus Bestrafung.

[] Sie sind gefühlsarm.

[] Sie sind nicht in der Lage, vorausschauend zu planen.

[] Besonders wichtig ist ihre Unfähigkeit, sich in andere hineinzufühlen.

Dieser Mangel an Empathiefähigkeit führt dazu, dass sie keine Hemmungen haben, anderen zu schaden. Manche Psychopathen fallen deshalb durch Gewaltverbrechen auf, durch Körperverletzung, Totschlag oder Mord.

Eine besondere Form des Psychopathen ist der Soziopath, der doch langfristig planen kann und in der Lage ist, anderen zumindest vorzuspielen, er sei ein soziales, mitfühlendes Wesen. Ein Soziopath hat keine Skrupel, jedes Mittel anzuwenden, um zum Ziel zu kommen - nur weiß er, dass er nicht durch Straftaten auffallen darf und ist entsprechend vorsichtig. Manche Soziopathen sind gerade aufgrund ihrer Skrupellosigkeit in der Lage, durch Täuschung und Manipulation beruflich aufzusteigen - als "Snakes in Suits" bezeichnet etwa der Experte Robert D. Hare von der University of British Columbia in Kanada diese Psychopathen, und vermutet, das mancher Manager in diese Kategorie fällt. Auch viele Serienmörder gelten als Soziopathen.

Zwei Diagnosehandbücher ziehen Psychiatrer zurate, wenn sie ihre Diagnose stellen sollen. Im Handbuch der Amerikanischen Psychiatervereinigung, dem DSM-IV, entspricht dem Bild des Psychopathen am ehesten die Antisoziale Persönlichkeitsstörung. Im entsprechenden Handbuch der WHO, dem ICD-10, ist hier von der Dissozialen Persönlichkeitsstörung die Rede. Die Liste der Merkmale, die Hinweise auf eine solche Störung sein können, überschneidet sich deutlich mit den oben genannten für Psychopathen. Drei Merkmale müssen vorhanden sein, um die Diagnose zu rechtfertigen.

Allerdings ist der Komplex von Merkmalen, die einzelne Menschen charakterisieren, zu vielfältig, als dass Eigenschaften, die auf eine antisoziale/dissoziale Persönlichkeit hinweisen, nicht auch immer wieder im Zusammenhang mit anderen schweren Persönlichkeitsstörungen beobachtet werden.

Ein Beispiel hierfür ist der Unabomber Theodore Kaczynski, der zwischen 1978 und 1995 im Namen eines fiktiven "Freedom Club" Briefbomben an ausgewählte Repräsentanten der von ihm gehassten "industriellen Gesellschaft" schickte. Er tötete drei Menschen, verletzte 23 und rechtfertigte seine Taten in einem Manifest - einem Papier, aus dem der norwegische Massenmörder Breivik abgeschrieben hat. Die Diagnose der Experten lautete paranoide Persönlichkeitsstörung sowie Merkmale einer sogenannten vermeidenden und einer antisozialen Persönlichkeitsstörung. Umstritten war die Diagnose einer paranoiden Schizophrenie.

Auch die Persönlichkeit des österreichischen Briefbombers Franz Fuchs war gleich durch eine ganze Reihe von Störungen beeinträchtigt. Fuchs verübte zwischen 1993 und 1997 im Namen der fiktiven Bajuwarischen Befreiungsarmee Anschläge auf Angehörige und Vertreter von Minderheiten, bei denen vier Menschen starben und 15 verletzt wurden. Er wies Merkmale der schizoiden, der paranoiden, der fanatischen, der zwanghaften und nicht zuletzt der narzisstischen Persönlichkeitsstörung auf.

Gerade die zuletzt genannte Störung wurde auch im Zusammenhang mit Anders Behring Breivik mehrfach angesprochen. Menschen mit dieser Störung zeichnen sich durch einige der folgenden Merkmale aus:

[] Sie halten sich selbst für großartig, einzigartig und besonders wichtig.

[] Sie sind arrogant und hochmütig.

[] Sie haben den Anspruch, dass andere ihre eingebildeten Erfolge und Talente gebührend wahrnehmen und sie entsprechend bewundern müssten.

[] Sie nutzen andere hemmungslos aus.

[] Sie phantasieren über Erfolge und Macht.

[] Häufig sind diese Menschen neidisch auf andere oder glauben, andere seien neidisch auf sie.

[] Und sie zeigen eine mangelhafte Fähigkeit zur Empathie - weshalb die Persönlichkeit dieser Menschen manchmal Überschneidungen mit der antisozialen/dissozialen Persönlichkeit aufweist.

Diese Selbstüberschätzung kann in einen mörderischen Wahn münden, wie zum Beispiel der Prozess um das Satanisten-Paar von Witten 2002 gezeigt hat. Das junge Ehepaar hatte 2001 einen Bekannten in ihre Wohnung gelockt und umgebracht. Die Psychiater bescheinigten beiden eine "erhebliche narzisstische Persönlichkeitsstörung", die sich in "überbordender Selbstbezogenheit und Selbstzentriertheit" gezeigt hatte. Beiden wurde aufgrund der "zutiefst zerstörten, zerrütteten Persönlichkeit" eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit zugestanden.

Der Verdacht, dass der Massenmörder aus Norwegen Merkmale dieser Persönlichkeitsstörung aufweist, ist angesichts der Selbstinszenierung in seinem Manifest und im Internet sicher naheliegend. Schließlich betrachtet er sich als Speerspitze einer europäischen Widerstandsbewegung, als Erster von Millionen, der zu den Waffen greift, als Anführer eines Ritterordens, dessen Bedeutung er für so riesig hält, dass er die Zeremonien, die Ausrüstung, sogar die Dienstgradabzeichen der wohl nur in seiner Phantasie existierenden Ordensmitglieder bis ins letzte Detail ausgearbeitet und in seinem Manifest erklärt hat. In diesem Punkt unterscheidet er sich übrigens von Selbstmordattentätern oder den RAF-Terroristen, die eher im Namen einer Organisation auftreten und sich selbst weniger inszenieren.

Die Bedeutung, die Breivik für sich selbst in Anspruch nimmt, wächst mit der Bedeutung, die er der fiktiven, gegen Europa gerichteten islamistischen Verschwörung beimisst, die er in seinem Manifest ausführlich beschreibt. Auffällig sind auch seine Ansprüche, als hochmoralische, sympathische, menschliche Heldenfigur wahrgenommen zu werden. Und schließlich muss jemand, der 68 Mitmenschen erschießt, zumindest während der Tat unter einem Mangel an Empathiefähigkeit leiden, die man sich als normaler Mensch gar nicht vorstellen kann oder will.

Alle diese Hinweise auf die Persönlichkeit des Anders Behring Breivik werden die Experten zu deuten wissen. Ihn einfach als Psychopathen zu bezeichnen, als Verrückten oder Verwirrten, ist aber genauso falsch wie davon auszugehen, dass jemand, der so planvoll vorgeht, nicht gestört sein kann.

"Meiner Ansicht nach gibt es einige Taten, die per Definition den Geist dahinter erkennen lassen", sagt Simon Baron-Cohen, britischer Psychologe an der University of Cambridge. "Und der kaltblütige Mord an einem unschuldigen Kind ist eine davon", schreibt er in seinem kürzlich veröffentlichten Buch Zero Degrees of Empathy. A new theory of human cruelty.

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