ADHS:Gegen den Trend

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Kinder mit ADHS können von Medikamenten profitieren: Sie können sich dann zum Beispiel besser konzentrieren. (Foto: Julian Stratenschulte/dpa)

Kinder und Jugendliche bekommen seltener Ritalin und Co. verschrieben, doch immer mehr Erwachsene erhalten die Mittel.

Von Werner Bartens

Das Kind ist abgelenkt, unruhig und raubt Eltern wie Lehrern die Nerven? Zack, die schnelle Pille stellt den Zappelphilipp ruhig und besänftigt Störenfriede sofort. Soweit das Klischee. Tatsächlich gilt ADHS, also die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, als Paradebeispiel dafür, wie auffälliges Verhalten zur Krankheit erklärt wird und unnötig Medikamente dagegen verschrieben werden. Der Verbrauch von Methylphenidat, bekannt vor allem als Ritalin, stieg schließlich von 1990 bis 2000 um mehr als das Zehnfache an, von 2000 bis 2010 noch einmal um das Dreifache, was ein starker Hinweis auf Medikalisierung und Übertherapie ist. Die Entwicklung drohte sich noch weiter zu beschleunigen, nachdem verschiedene Fachgesellschaften in jüngster Zeit eine medikamentöse Behandlung nicht mehr nur bei schwerer, sondern schon bei mittelschwerer Ausprägung des Leidens empfahlen.

Der scheinbar unaufhaltsame Anstieg der Verschreibung von Ritalin und anderen Mitteln ist jedoch offenbar gestoppt. Thomas Grimmsmann vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung in Mecklenburg-Vorpommern und Wolfgang Himmel vom Institut für Allgemeinmedizin der Universität Göttingen zeichnen im European Journal of Clinical Pharmacology die Entwicklung zwischen 2008 und 2018 nach. Anhand repräsentativer Daten von mehr als 77 000 Patienten zeigen sie, dass die Zahl derer, die ADHS-Mittel bekamen, von 2008 bis 2012 weiterhin anstieg und zwar um 36 Prozent. Anschließend erreichte die Entwicklung aber ein Plateau und fiel in den Folgejahren sogar leicht ab - immerhin bis 2017 um fast 18 Prozent. Dieser Trend drehte sich auch 2018 nicht um. "Es sieht so aus, als ob die befürchtete oder tatsächliche Medikalisierung durch neue Leitlinien zumindest nicht verstärkt wurde", sagt Himmel.

Allerdings führen zwei gegensätzliche Entwicklungen in unterschiedlichen Altersgruppen zu diesem Trend. Die Verschreibung von Medikamenten ging bei Kindern und Jugendlichen bis zum Alter von 16 Jahren zurück - die Zahl der Verordnungen sank sogar überraschend deutlich um fast 40 Prozent von 2011 bis 2018. Die Zahl älterer Jugendlicher und junger Erwachsener bis 24 Jahre, die eine Pharmakotherapie erhielten, verdoppelte sich hingegen in den vergangenen zehn Jahren. Der Anteil älterer medikamentös behandelter Erwachsener vervierfachte sich in diesem Zeitraum gar. "Man denkt bei ADHS zumeist an Kinder, doch fast jeder zweite medikamentös behandelte ADHS-Patient ist älter als 16 Jahre", so Grimmsmann und Himmel.

Diese Befunde widersprechen Behauptungen der letzten Jahre, in denen eine Unterversorgung von Erwachsenen befürchtet wurde. Werden Jugendliche älter und nicht mehr von Kinderärzten betreut, könne ein Behandlungsloch drohen, so lautete die Vermutung. ADHS im Erwachsenenalter habe sich jedoch als eigenständiges Krankheitsbild etabliert. Womöglich werde es aber zu selten diagnostiziert, hieß es jetzt.

Aus den pharmako-epidemiologischen Daten der Studie lässt sich nicht ableiten, ob zu viele, zu wenige oder vielleicht die falschen Menschen gegen ADHS behandelt werden. "Allerdings ist der Alarmismus, der manchmal in der öffentlichen Diskussion zu vernehmen ist, in zweierlei Hinsicht nicht gerechtfertigt", schlussfolgern die Autoren: "Weder hat die Liberalisierung der Leitlinien für die medikamentöse Behandlung der ADHS zu einem vehementen Anstieg der Verordnungen bei Kindern geführt; noch bleibt eine mögliche ADHS-Symptomatik bei Erwachsenen in größerem Ausmaß unentdeckt und unbehandelt."

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