25 Jahre Super-GAU von Tschernobyl (9):62 Tote - oder Hunderttausende?

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Weltgesundheitsorganisation und Vereinte Nationen kommen zu völlig anderen Opferzahlen der Katastrophe in Tschernobyl als Greenpeace oder die Ärzte gegen Atomkrieg. Der Streit um die Folgen des Super-GAUs zeigt vor allem eins: wie wenig wir über die Wirkung radioaktiver Strahlung wirklich wissen.

Markus C. Schulte von Drach

"Kinder, die in der Nähe eines Kernkraftwerks aufwachsen, erkranken öfter an Krebs." Wer vermutet, diese Feststellung stamme von Greenpeace, der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges) oder anderen erklärten Gegnern der Atomkraft, der liegt falsch.

Gedenken an die Opfer von Tschernobyl

In der ukrainischen Stadt Slawutytsch gedenken Einwohner der ersten Opfer von Tschernobyl - den gestorbenen Liquidatoren. 134 Aufräumarbeiter erkrankten an akuter Strahlenkrankheit, 28 von ihnen starben innerhalb von vier Monaten.

(Foto: dpa/dpaweb)

Der Satz ist zu lesen auf den Seiten des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) und fasst "das Ergebnis einer [...] Studie des Deutschen Kinderkrebsregisters" zusammen, "die im Auftrag des Bundesamtes für Strahlenschutz durchgeführt wurde".

Eindeutiger kann eine Aussage kaum sein.

Doch was folgt, ist verwirrend: Auf der Basis des gegenwärtigen Wissens, so heißt es weiter, müsste eine Strahlenbelastung in Höhe von etwa zehn Millisievert wirken, um die Krebszahlen so ansteigen zu lassen. Eine solche Strahlung geht von deutschen Atomkraftwerken aber nicht aus. Fazit: "Wegen der fehlenden nachvollziehbaren Erklärungen [...] fehlt derzeit auch eine belastbare wissenschaftliche Grundlage, die Grenzwerte zu senken." Mit anderen Worten: Offiziell gilt die Strahlung der AKW als ungefährlich. Es muss also eine andere Ursache für die Leukämiefälle geben.

Ein mögliches Fazit wäre natürlich, dass Atomkraftwerke gefährlicher sind, als es den Grenzwerten zufolge der Fall zu sein scheint. Soweit aber will man beim BfS nicht gehen.

Einen ähnlich verwirrenden Umgang mit Grenzwerten demonstrierte kürzlich auch die EU-Kommission: Ausgerechnet wegen der Atomkrise in Japan wurden in der EU die Grenzwerte für die Radioaktivität japanischer Importprodukte nicht etwa verschärft, sondern abgeschwächt. Wissen diese Politiker und Experten eigentlich, was sie tun? Und in Japan hat das Erziehungsministerium die maximale Strahlendosis, der der Nachwuchs im Kindergarten und der Schule pro Stunde ausgesetzt sein darf, auf 3,8 Mikrosievert hochgesetzt. Das liegt zwar noch im Rahmen der Empfehlungen der Internationalen Strahlenschutzkommission für Strahlenunfälle. Aber man fragt sich doch, wieso die Grenzwerte angesichts akuter Strahlenbelastungen mal eben nach oben verschoben werden.

Im ganz großen Maßstab belegt gerade die Diskussion um die Opfer von Tschernobyl, wie schwierig es ist, die Gefahr radioaktiver Strahlung zu bewerten. Die Angaben zu den Todesopfern und Erkrankungen etwa, die verschiedene Quellen angeben, liegen extrem weit auseinander.

So stellen IPPNW und der atomkritische Verein Gesellschaft für Strahlenschutz jetzt in einem gemeinsamen Papier fest, dass nach russischen Angaben mehr als 90 Prozent der Liquidatoren Invaliden seien, "das wären mindestens 747.000 schwerkranke Menschen". Bereits 2005 seien bis zu 125.000 Liquidatoren gestorben. Allerdings gehen die Organisationen von 830.000 Aufräumarbeitern aus - deutlich mehr als andere Quellen angeben. Besonders belastet sollen außerdem 350.000 Evakuierte aus der 30-Kilometer-Zone und weiteren kontaminierten Gebieten sowie mehr als acht Millionen Menschen in Russland, Weißrussland und der Ukraine sein. Dazu kommen dann noch 600 Millionen Betroffene in Europa, die zwar in geringer strahlenbelasteten Zonen lebten, bei den beiden Organisationen aber nichtsdestotrotz als besonders strahlenbelastete Populationen aufgelistet werden.

In dem Dokument "Gesundheitliche Folgen von Tschernobyl" stellen die Atomkraftgegner dann etliche Beispiele für Folgen der Strahlung sowie Zahlen der davon Betroffenen zusammen, die durch etliche Studien belegt sein sollen: Etliche Krebs-, Herzkreislauf- und Magenerkrankungen, Schäden am Erbgut von Kindern, neurologisch-psychiatrische Erkrankungen und Totgeburten. Allein in Europa seien aufgrund der Katastrophe 5000 Säuglinge gestorben. Zudem sei es zu Tausenden Fehlbildungen gekommen. Unter Berufung auf das damalige Tschernobyl-Ministerium der Ukraine weisen sie seit Jahren auf eine "Vervielfachung der Erkrankungen" hin. Unter den Evakuierten sei der Anteil gesunder Menschen demnach von 1987 bis 1996 von 59 Prozent auf 18 Prozent gesunken.

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