Mario Draghi hat es mal wieder geschafft, sich selbst zu unterbieten. Trotz aller Bedenken, auch aus den eigenen Reihen, haben der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB) und seine Direktoriumskollegen den Leitzins in der Euro-Zone von 0,75 Prozent auf 0,5 Prozent gesenkt. Seit der Finanzkrise hat die EZB den wichtigen Satz, zu dem sich Banken Geld von Notenbanken leihen, Schritt für Schritt von 3,75 Prozent runtergefahren. Jetzt erreicht er einen neuen Tiefpunkt. Europa ist endgültig die Zone des billigen Geldes. Dabei stellt sich die Frage nach dem Sinn der Aktion.
Warum senkt die EZB die Zinsen?
Billiges Geld soll gegen die Übel helfen, die Europa in der Schuldenkrise heimsuchen: Rezession und Arbeitslosigkeit. Am Dienstag meldeten Europas oberste Statistiker für März einen neuen, traurigen Rekord bei der Arbeitslosenquote: 12,1 Prozent. Im Vergleich zum Vormonat hatten 62.000 Menschen weniger einen Job. Vor allem in den Staaten der Peripherie, die unter dem Vertrauensverlust der Investoren und dem Spardiktat gleichermaßen leiden, sind die Zahlen katastrophal. Junge Menschen finden kaum Arbeit in den einbrechenden Wirtschaftssystemen. Mit der Zinssenkung wollen die Zentralbanker dort Investitionen erleichtern. Ihr Kalkül: Wenn Unternehmen und Menschen billiger an Kredite kommen, können sie mehr Geld ausgeben, die Wirtschaft antreiben, Jobs schaffen.
Es ist der ideale Zeitpunkt für die Vertreter einer lockeren Geldpolitik, zur Tat zu schreiten. Denn derzeit haben jene, bei denen billiges Geld immer auch Furcht vor höheren Preisen hervorruft, einen schweren Stand. Die Inflationsrate ist im März von 1,7 auf 1,2 Prozent zurückgegangen - auf den niedrigsten Stand seit 2010. Diese Entwicklung könnte auf Deflation zulaufen. Das bedeutet, dass die Preise deutlich zurückgehen könnten, Geld also mehr wert wird. Skeptikern versicherte EZB-Direktor Jörg Asmussen vor kurzem, die Zentralbank würde die Zinsen wieder erhöhen, sobald Inflationsrisiken ernsthaft stiegen.
Wem nutzt die Zinssenkung?
Der Leitzins der EZB hat viel mit Psychologie zu tun. Die Zinssenkung hat vor allem Signalwirkung: Billige Zinsen sollen die Stimmung in der Wirtschaft heben. Investoren auf den Finanzmärkten erwarteten eine Senkung. Die EZB hatte sich zuletzt selbst unter Druck gesetzt: Draghi hatte den Schritt schon Anfang April in Aussicht gestellt. Hätte er sich einer Senkung jetzt doch verweigert, hätte er Investoren enttäuscht und möglicherweise Verunsicherung auf den Märkten ausgelöst. Vor allem die Aktienmärkte sind es, die von Zinssenkungen profitieren. Eine niedrige Leit-Rate bedeutet auch, dass die meisten klassischen Geldanlagen wie Sparbücher weniger Geld abwerfen. Wer dann noch bessere Rendite erzielen will, kauft Aktien - mit den damit verbundenen Risiken.
Billiges Geld in der Euro-Zone dürfte auch der Exportwirtschaft nützen. Ist mehr Geld im Umlauf, könnte der Euro-Kurs im Vergleich zu anderen Währungen sinken. Die Welt könnte billiger in Europa einkaufen. Das bedeutet mehr Aufträge für die Industrie der Euro-Zone. Zudem dürften einige Staaten profitieren: Banken legen Geld, das sie zu guten Konditionen von der Zentralbank bekommen, gerne in Staatsanleihen an. Deren Zinsen könnten wegen der höheren Nachfrage sinken, die Regierungen sich billiger Geld leihen.
Wem schadet die Zinssenkung?
Die Kanzlerin hat den Schritt der EZB im Vorfeld indirekt kritisiert. In den Staaten, die in der Krise seien, müsse die EZB irgendwie Liquidität bereitstellen, für Deutschland müsse sie die Zinsen aber eigentlich erhöhen. Deutschland kommt von allen Euro-Staaten am besten durch die Krise. Wozu also eine Zinssenkung, von der die rezessionsgeplagten Staaten wohl überproportional profitieren dürften? Zudem kennt Merkel die Inflationsfurcht der Deutschen nur zu gut. Deutschen Sparern dürfte der Schritt schaden - denn nach dem Leitzins der EZB richten sich zumindest in der Theorie alle anderen Zinssätze. Schon heute gibt es zum Beispiel für Tagesgeldkonten nur etwa ein Prozent - der Zinsgewinn wird komplett von der Inflation aufgefressen. Diese Tendenz dürfte sich mit noch niedrigeren Zinsen verstärken.
Vor allem aber stellt sich die Frage, ob es überhaupt etwas bringt, die Zinsen zu senken. Experten wie Bundesbank-Chef und EZB-Ratsmitglied Jens Weidmann bezweifeln mittlerweile, dass die Kredite denen helfen, die sie benötigen. Sie sind der Überzeugung, billiges Zentralbankgeld komme in der Krise gar nicht in der Realwirtschaft an. Das billige Zentralbankgeld könnten Banken einfach zurückhalten und damit die höheren Eigenkapitalanforderungen erfüllen, die Politik, Aufseher und auch Notenbanken an sie richten. So richtig traut die EZB selbst ihrem wichtigsten Instrument nicht. Direktor Asmussen sagte vor einer Woche: "Die Wirkung einer Zinssenkung wäre in den Peripherieländern begrenzt. Dort würde sie aber am ehesten gebraucht." Der Sparkassenverband warnte in einer gemeinsamen Stellungnahme mit der Versicherungswirtschaft, dass der Anreiz sinke, zu sparen und für das Alter vorzusorgen. Denn niedrige Zinsen machen Versicherungen und Pensionskassen Probleme. Sie schaffen es kaum mehr, am Kapitalmarkt für ihre Kunden die garantierte Verzinsung zu erzielen. Gegen die Senkung spricht auch, dass sie in stabilen Ländern wie Deutschland Preisblasen verstärken und Märkte überhitzen könnte. Je mehr billiges Geld, desto mehr riskante Investitionen.
Ein Beispiel, das die Bürger direkt spüren: die stark steigenden Immobilienpreise in deutschen Städten.