Niemand sieht einem Kleidungsstück an, unter welchen Bedingungen es produziert worden ist, ob beispielsweise beim Färben giftige Substanzen ungeklärt in Gewässer gelangten oder Kinder die Hosen, Blusen und Jeans genäht haben. Wer Textilien einkaufen will, bei deren Herstellung ökologische und soziale Mindeststandards eingehalten werden, hat deshalb theoretisch die Möglichkeit, sich an Zertifizierungen und Siegeln zu orientieren. Zu den Wegweisern mit hohem Anspruch gehört laut dem von der Bundesregierung initiierten Portal Siegelklarheit der Global Organic Textile Standard (GOTS). Er erfülle alle Mindestanforderungen im Bereich Soziales und habe besonders hohe Anforderungen in den Bereichen Glaubwürdigkeit und Umwelt. Weltweit gibt es über 12 000 GOTS-zertifizierte Betriebe.
Wer Textilien mit dem Siegel kauft, kann allerdings nicht ausschließen, dass an deren Herstellung Zwangsarbeiter beteiligt waren: Laut einer bislang unveröffentlichten Studie der Menschenrechtsorganisation ECCHR, die der SZ vorliegt, sind in der nordchinesischen Region Xinjiang mehrere Betriebe nach dem GOTS-Standard zertifiziert. Eine GOTS-Sprecherin spricht auf Anfrage von zwei zertifizierten Betrieben. Überprüfungen durch Auditfirmen hätten dort "keine Unregelmäßigkeiten" ergeben.
Hinweise für Zwangsarbeit in der Region gab es schon 2018
Die Region Xinjiang ist eine der großen Drehscheiben der globalen Textilproduktion. Ein Fünftel der weltweiten Baumwolle wird hier geerntet, weswegen sich auch viele weiterverarbeitende Betriebe angesiedelt haben. Allerdings verletzt der chinesische Staat in der Region massiv die Menschenrechte von Uiguren, sperrt Angehörige der ethnischen Minderheit in Umerziehungslager und soll Hunderttausende zwingen, in der Erntesaison auf den Baumwollfeldern zu arbeiten. Wegen mutmaßlicher Zwangsarbeit hatte die amerikanische Regierung im Januar ein Importverbot für Baumwolle aus Xinjiang verhängt.
Erste Hinweise, dass auf den Feldern in der Region möglicherweise Zwangsarbeiter zum Einsatz kommen, gab es vor knapp drei Jahren. Im April 2019 wies dann auch die Fair Labour Association auf die Risiken von Zwangsarbeit hin. Im Dezember 2020 untersagte die Organisation allen Mitgliedern, Rohstoffe, Betriebsmittel oder Fertigprodukte aus der Region zu beschaffen. Die chinesische Regierung weist den Vorwurf von Zwangsarbeit zurück.
Diverse Textilfirmen, auch aus Deutschland, haben ihre textile Lieferkette in die Region aber zuletzt gekappt. Bei GOTS heißt es dazu: Zertifizierte Unternehmen dürften keine Fasern einsetzen, wenn bei deren Gewinnung "unwiderlegbare grobe Verstöße" gegen die Arbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation vorliegen. Dazu zählt Zwangsarbeit.
Objektive Prüfungen seien in der Region nicht möglich, heißt es beim TÜV Süd
Um die Einhaltung von Standards zu gewährleisten, setzt GOTS auf Prüfungen, in der Branche Audits genannt. Dabei inspizieren spezialisierte Firmen, angekündigt oder unangekündigt, die Produktionsstätten. Um die menschen- und arbeitsrechtliche Situation einzuschätzen, sprechen sie mit Arbeiterinnen und Arbeitern. Ob sich die Beschäftigten frei äußern können, ist also wesentlich für eine objektive Beurteilung der Arbeitsverhältnisse. Dies halten manche Prüffirmen für kaum mehr möglich.
Die weltweit führenden fünf Auditunternehmen, darunter der TÜV Süd, erklärten im September 2020 keine Inspektionsdienste mehr in Xinjiang anzubieten, weil aufgrund des repressiven Handelns der Behörden und der Errichtung eines Polizeistaates in der Region keine zuverlässige Auditierung mehr zu gewährleisten sei. Bis heute nehme man keine Aufträge für Social Audits in der Region an, heißt es beim TÜV Süd. Andere Prüfunternehmen sind dagegen weiter in der Region tätig.
Auf deren Einschätzung vertraut GOTS. Man müsse sich "auf die erwiesene Kompetenz, das Wissen und die Erfahrung unserer jeweiligen unabhängigen, zugelassenen Zertifizierungsstellen und deren Zertifizierungsentscheidungen verlassen", heißt es dort. Die Zertifikate der zwei von GOTS zertifizierten Betriebe in Xinjiang seien von Control Union ausgestellt worden. Bei Control Union Deutschland heißt es wiederum, dass das chinesische Schwesterbüro und die Zentrale in den Niederlanden zuständig sind. Die Thematik habe dort "eine hohe Priorität" und werde "derzeit von unserer Zentrale gründlich untersucht".
Die Audits wurden zuletzt nur virtuell durchgeführt
Massive Zweifel am Aussagewert von Audits in der Region Xinjiang hat Sabine Ferenschild von der NGO Südwind. Von Februar 2020 an seien nach ihrem Wissen Audits von allen Prüfunternehmen nur noch virtuell durchgeführt worden. Wenn es so schon schwer sei, im Kontext staatlich organisierter Repression Informationen von Beschäftigten zum Thema Zwangsarbeit zu bekommen, so erscheine ihr das in virtuellen Audits unmöglich. GOTS verlasse sich auf die Aussagen von Zertifizierern, die "nicht vor Ort sein können".
Thema ist die GOTS-Zertifizierung auch in einer eigens für die Region Xinjiang eingerichteten Arbeitsgruppe beim Bündnis für nachhaltige Textilien. In der Arbeitsgruppe suchen Staat, Unternehmen und Zivilgesellschaft nach Wegen, die Produktionsbedingungen zu verbessern. Man wisse nicht, ob GOTS-zertifizierte Textilien aus Xinjiang auf den europäischen Markt kämen, sagt Jürgen Janssen, der Leiter des Textilbündnisses. Allerdings halten es mehrere Teilnehmer des Arbeitskreises für notwendig, dass sich GOTS aus der Region zurückzieht.
Das Textilbündnis war nach der schwersten Katastrophe in der Geschichte der Textilindustrie ins Leben gerufen worden, dem Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza in Bangladesch, bei dem mehr als 1130 Menschen starben. Auditoren spielten dabei eine zweifelhafte Rolle: Die Fabrik war eingestürzt, obwohl dort Mitarbeiter verschiedener Prüffirmen ein- und ausgegangen waren. Das Gleiche gilt für andere Textilfabriken in Asien, in denen es zu schweren Unglücken kam. Darunter hat die Glaubwürdigkeit von Audits massiv gelitten.