Volkswagen:Die Geschichte des VW-Betrugs

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Langsam aber sicher wird klarer, wer in Wolfsburg wann was wusste. (Foto: Bloomberg)

Wann hat alles begonnen? Wer wusste Bescheid? Und wer hat versucht, den Betrug zu verhindern? Die Ermittlungsergebnisse bei VW offenbaren immer mehr Details der Affäre.

Von Georg Mascolo und Klaus Ott, Wolfsburg

Alles war detailliert geplant und vorbereitet. In diesen Tagen wollte der VW-Aufsichtsrat der Öffentlichkeit endlich einen Einblick geben, was die monatelangen Ermittlungen in der Abgasaffäre denn nun ergeben haben. Dann stoppte der Konzern plötzlich und "mit Bedauern" die Veröffentlichung. Die amerikanischen Behörden wollten das nicht, es könnte die schwierigen Verhandlungen über einen Schadenausgleich erschweren.

Dabei sind die internen Untersuchungen weit vorangeschritten. Manche im Konzern glauben gar, nun werde nicht mehr allzu viel Neues kommen. "Das Bild ist schon ziemlich rund", heißt es in den Chefetagen. In den Akten der mit den Ermittlungen beauftragten US-Kanzlei Jones Day finden sich umfangreiche Aussagen, darunter das als entscheidend eingestufte Geständnis des früheren Chefs des Bereichs Antriebselektronik, der als Kronzeuge gilt. Man habe mit den Befragungen viel Klarheit über die Abläufe bekommen, heißt es in Konzernkreisen. Auch die Staatsanwaltschaft in Braunschweig sagt, es gehe "durchaus voran". Sogar einige der 17 Beschuldigten haben in Braunschweig schon ausgesagt.

Die damalige Konzernspitze um Martin Winterkorn, so die bisherigen Ermittlungsergebnisse, soll weder am Abgasbetrug beteiligt gewesen sein noch frühzeitig davon erfahren haben. Unterhalb der Vorstandsebene gelten fast alle Führungskräfte, die in die Entwicklung des betreffenden Motors eingebunden waren, als belastet. VW äußerte sich dazu auf Anfrage nicht. Man müsse "behördliche Anordnungen zum Stillschweigen" befolgen.

Alles begann am 20. November 2006

Der Beginn des Betrugs, der jetzt zum höchsten Verlust in der Firmengeschichte führte, lässt sich inzwischen auf den Tag genau datieren. Es ist der 20. November 2006. In Wolfsburg kommen hochrangige VW-Mitarbeiter zu einer Besprechung zusammen und treffen eine folgenschwere Entscheidung. Die Entscheidung für einen gigantischen Betrug. Im Raum sitzt eine kleine Gruppe, Techniker und Ingenieure, unter ihnen die Top-Leute der Motortechnik. In Unterlagen des Konzerns steht, sie seien "bestens qualifizierte Experten". Eine technische Elitetruppe. Viele von ihnen verdienen mehr als eine halbe Million Euro pro Jahr. Sie arbeiten an einem Dieselaggregat, das VW den Durchbruch auf dem US-Markt bescheren soll, dem Motor EA 189. Und sie stehen vor einem Problem: den strengen US-Abgasgrenzwerten.

Ein Beamer wirft eine Grafik an die Wand. Kurven veranschaulichen den Testzyklus der US-Behörden. Nur wer den übersteht und die Grenzwerte einhält, bekommt die Zulassung auf dem Milliardenmarkt. Damals, so sagen Teilnehmer später aus, habe Verzweiflung geherrscht, der Eindruck von Ausweglosigkeit. Die Kosten für die Abgasreinigung müssen gering bleiben. Gleichzeitig soll der Motor schnell und sparsam sein und die US-Grenzwerte einhalten. Allen ist klar: Das neue Aggregat, das für viel Geld entwickelt worden ist, kann nicht alle Anforderungen erfüllen.

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Die VW-Manager haben den verbotenen Weg gewählt

Zwei Möglichkeiten bleiben der Technik-Elite. Sie könnte dem Vorstand melden: Es geht nicht, der Motor muss anders konzipiert werden, womöglich das gesamte Auto. Das wäre schwierig und teuer. Die VW-Manager wählen einen anderen Weg: Sie wollen dem Auto beibringen, einen Testzyklus zu erkennen, um auf dem Prüfstand sauber zu bleiben. Aber nur dort. Zwei Probleme sind so scheinbar gelöst: Der Test wird bestanden und die Kosten bleiben niedrig. Nur: Dieser Weg ist streng verboten. Das müssten alle gewusst haben.

Eine entscheidende Rolle könnte der damalige Chef der Motorenentwicklung gespielt haben. Er soll bei dem Treffen im November 2006 den Einbau der Betrugssoftware gebilligt haben. Als die Ermittler ihn befragen, lautet seine Antwort, er könne sich an den Inhalt der Sitzung nicht erinnern. Und schon gar nicht an den Satz, von dem andere Teilnehmer berichten: "Wir tun es, aber wir dürfen uns nicht erwischen lassen." Eine Anfrage von vergangener Woche an den Ex-Chef der Motorenentwicklung bleibt unbeantwortet.

Möglich wird der 2006 begonnene Betrug durch eine Motorsteuerung von Bosch aus Stuttgart, des weltweit größten Zulieferers der Autoindustrie. Die Steuerung reguliert je nach Fahrverhalten und -situation das komplexe Zusammenspiel von Leistung, Verbrauch und Abgasreinigung. Das Auto kann erkennen, ob es gerade in der Stadt fährt, auf der Autobahn oder auf einem Teststand. Die Ingenieure von Bosch kennen die Möglichkeiten ihrer Software und ihnen schwant offenbar Böses. In einem Brief an Volkswagen warnen die Stuttgarter, dass Einbau und Nutzung dieser Software zur Erkennung von Testzyklen bei Serienfahrzeugen illegal wäre.

Aber die VW-Spezialisten lassen sich davon nicht mehr abbringen. Sie wissen, dass Abgasmessungen auf der Straße technisch noch nicht möglich sind. Sie basteln an der Software, programmieren sie für ihre Bedürfnisse. Winterkorn ist gerade VW-Vorstandsvorsitzender geworden. Der neue Chef ist ehrgeizig, will endlich den amerikanischen Markt erobern. Seine Ingenieure signalisieren ihm: Wir kriegen das hin, wir haben die strengen US-Abgaswerte im Griff. Wie sie das hinkriegen, verraten sie nicht. Nach außen behauptet VW, eine einfache Reinigungstechnik löse das Problem. Die Stickoxide würden in einem Filter gesammelt und verbrannt.

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Beinahe bis zum Schluss, bis im September 2015, als die amerikanische Umweltbehörde EPA die Welt über den Betrug informiert, will niemand in der VW-Spitze von dem Betrug gewusst haben. Ist das die Wahrheit? Dem geht die von VW beauftragte Kanzlei Jones Day nach. Sie arbeitet sich durch Zigtausende Dokumente: Akten, E-Mails, Protokolle. Die Ermittlungen sind schwierig. Die beteiligten VW-Mitarbeiter haben wenig Spuren hinterlassen. Oft wird verklausuliert gesprochen. Da ist die Rede etwa von "hartem" Emissionsbetrieb. Sitzungsprotokolle sind rar, viel wird mündlich geregelt.

2011 wurde die Software sogar noch systematisch verbessert

Im Herbst 2011 hätte der Betrug offenbar auffliegen können. Jakob Neußer wird Chef der Motorenentwicklung. Kurz danach erhält er Besuch vom Leiter der Antriebselektronik, der in den Betrug eingeweiht ist. Der sagt heute, er habe Neußer das Geheimnis offenbart. Er sei aber nicht sicher, ob Neußer alles verstanden habe. Neußer bestreitet das, ihm sei nichts mitgeteilt worden. Wie so oft gibt es keinen schriftlichen Beleg für das, was die beiden Manager besprachen. Nur ein Kalendereintrag zeigt, dass sie sich getroffen haben.

Im Jahr 2011 treiben die Ingenieure bei VW den Betrug sogar noch systematisch voran, sie "optimieren" die Software. Bis dahin ist die Motorsteuerung so programmiert, dass die Autos immer im sauberen Testmodus starten. Erst nach einer gewissen Strecke schaltet das Fahrzeug in den Schmutzmodus um. Das Problem aus Sicht der Ingenieure ist die Anfangsphase. Denn da fängt der Partikelfilter die Stickoxide zum größten Teil auf und verstopft deshalb schnell. Die Autos müssen dann in die Werkstatt, das kann teuer werden.

Die Ingenieure programmieren deshalb neu. Das Auto startet künftig sofort im Schmutzmodus. Und erstmals wird eine Lenkwinkelerkennung eingebaut. So soll noch besser zu erkennen sein, wann das Auto auf einem Prüfstand ist: nämlich, wenn es fährt, aber das Lenkrad nicht bewegt wird. Dann schaltet der Motor um auf den sauberen Prüfmodus. Auf der Straße dagegen werden die Stickoxide größtenteils ungefiltert hinausgeblasen. Der Effekt: Der Partikelfilter bleibt deutlich länger frei.

Einem der Manager ist das zu riskant. Er warnt; aber im Januar 2013 wird das neue Programm dennoch getestet. Und ab dem Modelljahr 2014 geht die neue Betrugs-Software in Serie. Sie durchläuft am 5. Februar 2014 sogar den konzerninternen Arbeitskreis für Produktsicherheit (APS), unter dem Titel "Einspritztuning". Leiter des APS, der intern Feuerwehr-Arbeitskreis genannt wird, weil alle größeren Probleme dort auf den Tisch kommen, ist damals Bernd Gottweis. Einer mit direktem Zugang zu Konzernchef Winterkorn. Ob Gottweis überhaupt den Hintergrund der Software kannte, ist unklar.

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Nur zufällig bemerken Wissenschaftler den Betrug

Ihren Wendepunkt nimmt die Geschichte im März 2014. Wissenschaftler in West-Virginia kommen VW auf die Schliche, unabsichtlich. Eigentlich wollen sie nachweisen, wie sauber Diesel-Autos sind. Sie messen die Abgase von Fahrzeugen während der Fahrt und nicht auf einem Teststand. Zufällig sind es Volkswagen, andere Autos haben die Wissenschaftler nicht. Die Messergebnisse fallen ganz anders aus als erwartet. Der Stickoxid-Ausstoß liegt bis zu 35-mal über dem erlaubten Grenzwert. Die Forscher zweifeln zunächst an sich, an ihrer Methode. Sie messen immer wieder nach, kommen aber zum selben Ergebnis.

Die US-Umweltbehörde EPA schickt Fragen an VW, lässt Ingenieure anreisen und Rede und Antwort stehen. Immer mehr VW-Mitarbeiter erfahren ab 2014 von dem Problem. APS-Chef Gottweis schickt im Mai 2014 eine vieldeutige Mail an Konzernchef Winterkorn. Gottweis schreibt, VW könne die hohen Abgaswerte nicht erklären. Die US-Behörden könnten nach einem "Defeat Device" suchen. Was sich hinter einer solchen Abschalteinrichtung für die Abgas-Reinigung verbergen könnte und dass VW davon seit Jahren Gebrauch macht, schreibt Gottweis nicht. Weil er es nicht weiß? Winterkorn will, so heißt es, die Notiz gelesen und nachgefragt haben. Ihm sei versichert worden, das Problem sei lösbar. Von dem Betrug habe er nichts gewusst.

Auf den letzten Metern verkalkulieren sich die Manager

Die an dem Betrug beteiligten Manager versuchen offenbar, ihre Manipulationen zu vertuschen; in der Hoffnung, noch schnell eine technische Lösung zu finden, bevor die Auseinandersetzung mit den US-Behörden eskaliert. Doch sie verkalkulieren sich.

Am 18. September 2015 verschickt die EPA eine "Notice of Violation", eine Mitteilung über einen Rechtsverstoß. Der Abgasbetrug kommt an die Öffentlichkeit. Der Aktienkurs bricht ein. Am 23. September 2015 tritt Winterkorn zurück. In mehreren Ländern beginnen Staatsanwaltschaften zu ermitteln. VW drohen Strafzahlungen in Milliardenhöhe. Die Entscheidung vom 20. November 2006 stürzt den Konzern in seine größte Krise.

© SZ vom 26.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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