Eine gut erhaltene Stadtmauer, eine Reihe mittelalterlicher sowie barocker Gebäude und ein Schloss: Das rheinland-pfälzische Kirchheimbolanden mit seinen knapp 8000 Einwohnern ist eine sehenswerte Kleinstadt - und ein Labor für die Zukunft der Energieversorgung in Deutschland. Im Rahmen der Energiewende wird die bisher zentrale Energieversorgung durch eine dezentrale, stark schwankende Einspeisung von erneuerbaren Energien in die Stromnetze abgelöst.
2016 betrug der Anteil der erneuerbaren Energien im Stromsektor 31,7 Prozent. Bis 2050 soll dieser Anteil auf 80 Prozent steigen. Statt Kraftwerken, die überregional Energie verteilen, erzeugen künftig zunehmend viele kleine Akteure einen möglichst hohen Anteil erneuerbarer Energie. Das bedeutet schwankende Produktion, Überschüsse sollten direkt vor Ort zwischengespeichert und bei Bedarf verbraucht werden. Die kleinste Einheit bilden dabei einzelne Häuser. So können extrem gut gedämmte Neubauten mit Hilfe von Sonnenkraft oder Erdwärme bereits mehr Energie erzeugen, als sie verbrauchen.
Die große Masse des Immobilienbestands hingegen kann da nicht mithalten. Stuckfassaden lassen sich nicht gut dämmen, und nicht jedes Dach ist für die Installation von Solarmodulen geeignet. Werden jedoch die Häuser eines Quartiers miteinander vernetzt, lassen sich die Schwächen einzelner Immobilien ausgleichen. In Kirchheimbolanden wird dieses Konzept in die Praxis umgesetzt.
"Die Stadt mit der umliegenden Region bot sich dafür an, weil hier die wesentlichen Komponenten für die Gewinnung erneuerbaren Energien genutzt werden", sagt Mathias Kluwe vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT). "Und auch seitens der Verbraucher stimmt die Mischung." Im Umland der Kleinstadt erzeugen Windkraftanlagen und Solarfelder Strom, der nicht nur in Wohnhäusern, sondern auch in Gewerbebetrieben und Industrieanlagen verbraucht wird. Am Projekt "Regionalisierung der Energieversorgung auf Verteilnetzebene am Modellstandort Kirchheimbolanden" sind neben dem KIT, der Kommune und dem lokalen Energieversorger auch Partner aus der Wirtschaft beteiligt, die technische Anlagen bereitstellen. "Zunächst simulieren wir in Kirchheimbolanden, wann in welchem Maße regenerative Energie erzeugt beziehungsweise verbraucht wird", sagt Kluwe. "Die Verwendung des überschüssigen Stroms lässt sich dann durch Optimierung steuern."
Je mehr Strom aus der Region kommt, desto weniger Masten müssen gebaut werden
Ziel sei eine weitgehend regionale Nutzung der erneuerbaren Energie: "Sonnen- und Windstrom, der nicht sofort verbraucht wird, wandeln wir in Gas um, sodass die überschüssige Energie gespeichert werden kann." Mit diesem Gas können Gebäude geheizt werden. Wird hingegen Strom benötigt, während weder die Sonne scheint noch der Wind weht, wandelt man das Gas wieder in Strom um. "Die große Herausforderung dabei ist es, Input und Output im Vorfeld möglichst genau zu berechnen, damit das System effizient arbeitet", sagt Kluwe. "Verbraucher sollen sich im Alltag mit Strom und Wärme ebenso wenig befassen müssen wie bisher."
Ab 2018 soll das Forschungsprojekt auch real umgesetzt und im Betrieb getestet werden. Wenn Kirchheimbolanden sich in der Praxis bewährt, lässt sich dieses Modell in jeder Region anwenden. Je autonomer sich der Energiehaushalt in den Regionen bewerkstelligen lässt, desto weniger Stromtrassen müssten durchs Land gebaut werden, um etwa Windkraft von der Nordsee nach Bayern zu bekommen.
"Um die ehrgeizigen Ziele der Energiewende insbesondere auch im Wärmebereich zu erreichen, sind Lösungen auf Quartiersebene entscheidend, dieser Aspekt rückt seit einigen Jahren verstärkt in den Fokus", sagt Thomas Lützkendorf, der das Fachgebiet Immobilienwirtschaft am KIT leitet. "Dabei müssen die Interessen verschiedener Akteure unter einen Hut gebracht werden, die in der Regel zuerst nach ihren ökonomischen Vorteilen fragen." Eigenheimbesitzer, Wohnungsunternehmen, Mieter, die Kommune und nicht zuletzt lokale Energieversorger haben dabei unterschiedliche Interessen. "Befindet sich ein Quartier komplett in der Hand eines Wohnungsunternehmens, lassen sich Projekte in Kooperation mit lokalen Energieversorgern leichter anstoßen, als in Fällen von Streubesitz", so Lützkendorf. "Lösungsansätze auf Quartiersebene haben den Vorteil, dass die Akteure sich gut damit identifizieren können."
Ein Konzept dafür erstellen Sanierungsmanager. Für deren Einsatz stellt die KfW Zuschüsse zur Verfügung. Quartier bedeutet in diesem Zusammenhang selten einen geografisch klar definierten Bereich. Gemeint sind einerseits der Verbund von Gebäuden und der dazugehörigen Energie-Infrastruktur und andererseits relevante Akteursgruppen.
Für drei völlig unterschiedliche Stadtteile in Berlin entwickelt das Institut für ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW) Konzepte, um das breite Spektrum urbaner Quartiere zu erfassen. "Wir simulieren und bewerten unterschiedliche Wärmeszenarien in Reallaboren", sagt Projektleiter Bernd Hirschl. Aufgrund der hohen Nachfrage in Ballungsräumen können Haushalte und Gewerbe sowohl mit dezentral hergestellter Wärme als auch über das Leitungsnetz versorgt werden. "Derzeit werden verschiedene Möglichkeiten diskutiert", sagt Hirschl, "es bestehen aber noch große Unsicherheiten bei politischen Entscheidern, welche Aspekte bei der zukünftigen Wärmeversorgung wichtig sind." Eine zentrale Frage, die das Forschungsprojekt "Urbane Wärmewende" beantworten will, lautet: Welche Rolle spielt Fernwärme in Konzepten, die mit Abwärme oder erneuerbaren Energien arbeiten?
Für den eigenen Campus hat die TU Braunschweig schon vor Jahren ein Quartierskonzept entwickelt und setzt es seit 2015 in die Praxis um. Das Ziel lautet, den Primärenergieverbrauch und die CO₂-Emissionen der Uni um 40 Prozent zu senken. "Zunächst haben wir in unserem Immobilienbestand zehn Gebäudetypen erfasst", sagt Projektleiterin Tanja Beier. "Neben den Baualtersklassen unterscheiden wir auch die Art der Nutzung, etwa Labore, Büros oder Wohnhäuser." Je nach Gebäudeprofil wird gedämmt, die Gebäudetechnik optimiert oder es werden Photovoltaikanlagen installiert. Entscheidend ist - ähnlich wie in Kirchheimbolanden - die Vernetzung und zentrale Steuerung: "Wenn wir den Energiebedarf exakt prognostizieren können, lässt sich auch der Input effizient verteilen", sagt Beier.
Ein Dreipersonenhaushalt kann bis zu 20 Prozent der Energiekosten einsparen
In der Wohnungswirtschaft werden vor allem Energiekonzepte auf Quartiersebene realisiert, die den Fokus auf Strom legen. So steht in Wuppertal seit einem Jahr eine vernetzte Effizienzhaus-Plus-Siedlung des Bundesverbands Deutscher Fertigbau (BDF) unter Beobachtung. Das Living Lab - ein Projekt, in dem Technologien getestet, evaluiert und demonstriert werden - folgt dem Konzept einer Ringstraße. Die 19 Gebäude sind energetisch vernetzt. Der durch Photovoltaikanlagen auf den Hausdächern erzeugte Strom, der nicht direkt im jeweiligen Haus verbraucht wird, wird nicht ins Netz eingespeist, sondern innerhalb des Quartiers umverteilt oder von einem quartierszentralen Energiespeicher aufgenommen. In den Häusern integrierte Sensoren regeln die Verteilung des Stroms.
"Im Zeitraum von Februar bis November 2016 wurden über 15 000 kWh Solarstrom im Quartier zusätzlich genutzt, anstatt ins öffentliche Netz eingespeist zu werden", erläutert Karla Müller von der Informationsstelle Effizienzhaus Plus, die das Projekt begleitet. "Somit konnten rund 15 Prozent des Überschussstroms direkt in der Siedlung umverteilt und genutzt werden." In der zweiten Phase des Monitorings wird der quartierszentrale Speicher in Betrieb genommen. "Hierdurch", so Müller, "erwarten wir nochmals eine deutliche Steigerung des Eigennutzungsgrades."
Der Projektentwickler RVI setzt im neuen Esslinger Quartier Lok-West auf Mieterstromversorgung ( Gut gemeint). Das Konzept dafür entwickelte der Münchner Energieversorger Polarstern. Auf einem 26 500 Quadratmeter großen Grundstück entstehen in fünf Baublöcken bis 2022 etwa 500 Wohneinheiten und Gewerbeflächen. Der im Bau befindliche Gebäudekomplex Béla wird bis 2018 fertiggestellt und ist das erste (und später zweitgrößte) Gebäude des neuen Quartiers. Auf 5600 Quadratmetern entstehen hier neun Gewerbeeinheiten und 132 Wohneinheiten. "Insgesamt können durch Photovoltaikanlagen und BHKW 80 Prozent des Strombedarfs gedeckt werden", erläutert RVI-Projektentwickler Holger Heible. "Das bedeutet für einen typischen Dreipersonenhaushalt eine Energiekostenersparnis verglichen zum Grundversorger von mindestens 20 Prozent."