Die Kommission des belgischen Parlaments hat in den letzten Tagen des Jahres viel zu tun, um die dringendsten Fälle zu erledigen. Noch etwa einhundert Anträge ausländischer Bürger, die ihre jetzige Staatsbürgerschaft unbedingt gegen einen belgischen Pass tauschen wollen, müssen entschieden werden. Viele von ihnen kommen aus Frankreich, in diesem Jahre waren es insgesamt 500. Und in den vergangenen Monaten stieg die Zahl der Anträge französischer Staatsbürger auf einen belgischen Pass um 15 bis 20 Prozent.
Belgien ist neben Monaco, der Schweiz und London der beliebteste Fluchtort für wohlhabende Franzosen geworden. Wer Steuern sparen will, wandert aus. In Belgien liegen die Einkommensteuern für Gutverdiener zwar auch bei 50 Prozent, in dem Land entfällt aber beispielsweise die Vermögensteuer, die viele Franzosen seit Jahren außer Landes treibt. Den Trend verstärkt hat die neue sozialistische Regierung. Symbolträchtigste Abgabe ist der - wenngleich nur auf zwei Jahre begrenzt eingeführte - neue Spitzensteuersatz von 75 Prozent für Einkommen ab einer Million Euro Einkommen pro Jahr. Er ist der Anlass für den Schauspieler Gérard Depardieu, das Land zu verlassen. Vor ihm hatte der Chef und Eigner des Luxuskonzerns LVMH, Bernard Arnault, versucht, belgischer Staatsbürger zu werden.
Belgien kommen die Steuerflüchtlinge nicht ungelegen. Das Land kämpft seit einem Jahr um jeden Euro an Steuereinnahmen, um seinen Schuldenberg möglichst bald abtragen zu können. Belgiens Außenminister Didier Reynders sagte der französischen Tageszeitung Le Figaro am Dienstag, er werde nichts dagegen unternehmen, wenn Franzosen nach Belgien auswandern wollten. Im Gegenteil: Alle seien "willkommen". Zugleich wies er Vorwürfe zurück, wonach Belgien mit seiner Steuergesetzgebung gezielt Franzosen ins Land locke. Belgien sei nicht "der Sündenbock", sagte er dem französischen Sender RTL. Es sei die hohe Besteuerung von Reichen durch die sozialistische Regierung in Paris, die für die Auseinandersetzung verantwortlich sei.
Französisches Steuersystem hat "Konsequenzen"
"In Belgien ist keine Maßnahme ergriffen worden, um irgendwelche französischen Staatsbürger anzuziehen." Vielmehr habe es "eine Entwicklung des französischen Steuersystems gegeben, die vielleicht Konsequenzen hat", sagte er mit Blick auf neuen Spitzensteuersätze in Frankreich. Die Forderung aus Paris, die Steuern in den 27 europäischen Ländern zu harmonisieren, wies er zurück. Er bezweifle, dass "ganz Europa das französische System anwenden" werde. Es gebe "keine Mehrheit in Belgien für eine Steuer von 75 Prozent auf Einkommen".
Depardieu, bekannt durch Filme wie "Die letzte Metro", "Cyrano de Bergerac" oder "Green Card - Scheinehe mit Hindernissen", hatte am Wochenende empört seinen Verzicht auf die französische Staatsbürgerschaft angekündigt. Als Grund gab der 63-Jährige in einem offenen Brief an Premierminister Jean-Marc Ayrault an, dass dieser ihn "beleidigt" habe. Der Regierungschef hatte gesagt, wer sein Land wegen Steuerersparnisse verlasse, handle "erbärmlich". Depardieu, der im Wahlkampf den später abgewählten konservativen Präsidenten Nicolas Sarkozy unterstützt hatte, hat als Schauspieler allerdings viele Jahre von der großzügigen Filmförderung profitiert. Der Filmstar fiel immer wieder durch cholerische Reaktionen und zuletzt durch eine Motorrollerfahrt mit 1,8 Promille Alkohol im Blut auf.
Laut Gesetzgebung können Franzosen beantragen, ihre Staatsbürgerschaft abzugeben, sobald sie andernorts eine andere bekommen haben. Sie können jederzeit zurückkehren, sofern sie auf französischem Boden geboren wurden. Entlang der Grenze leben bereits Tausende wohlhabende Franzosen. Auch vor Hollande wanderten französische Unternehmer und Künstler aus, etwa die Familie Mulliez, der die Hypermarché-Kette Auchan gehört oder der Schriftsteller Eric-Emmanuel Schmitt. Angesichts des Streits erklären sich nun auch Prominente solidarisch mit ihrer Heimat. Die Schauspielerin Line Renaud ("Willkommen bei den Scht'is"), eine bekennende Konservative, sagte, sie werde bleiben, wenn das Land "in Schwierigkeiten steckt". Der Sänger Michel Sardou beteuert, von der 75-Prozentsteuer "nicht schockiert" zu sein. Auch er gilt nicht als Anhänger der Sozialisten.