Freihandelsabkommen TTIP:Mehr Wachstum bedeutet nicht immer mehr Wohlstand

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Plakate mit "Stoppen Sie TTIP" in Hamburg. (Foto: Axel Heimken/dpa)

Die Wirtschaft muss dem Menschen dienen und nicht umgekehrt. In den Verhandlungen zum Freihandelsabkommen TTIP wird dieser Grundsatz missachtet. Ein Neustart der Gespräche wäre die beste Lösung. Denn in jedem Scheitern liegt die Chance, es besser zu machen.

Von Silvia Liebrich

Demonstranten sind in Brüssel nicht gern gesehen. Schon gar nicht, wenn sie gegen das umstrittene Freihandelsabkommen zwischen den USA und der Europäischen Union protestieren. Als sich TTIP-Gegner im Frühjahr am Rande eines Treffens von Wirtschaftsvertretern und EU-Kommission versammeln, fährt die Polizei schwere Geschütze auf. Mit Wasserwerfern beendet sie die friedliche Demonstration. 250 Kritiker werden in Handschellen abgeführt, darunter einige EU-Parlamentarier.

Genützt hat es wenig. Der Widerstand ist noch schneller gewachsen. Gegner und Befürworter stehen sich unversöhnlich gegenüber. Die Lage ist verfahren. Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen? Und: Wie kommt man aus dieser verfahrenen Situation wieder heraus?

Immer deutlicher wird, dass sich EU-Kommission und auch die Bundesregierung bei der Vorbereitung der Verhandlungen grobe Schnitzer geleistet haben. Der wohl größte Irrtum war es, ein Wirtschaftsabkommen von so gewaltiger Dimension über die Köpfe der Bürger hinweg zu beschließen und auf den zu Weg bringen. Rein formal ist am Verhandlungsmandat zwar nichts auszusetzen, alle 28 EU-Länder haben ihr Einverständnis gegeben. Doch das allein reicht eben nicht.

Es gibt auch eine moralische Verpflichtung: die der Aufklärung. Mit dem transatlantischen Deal soll immerhin der mächtigste ökonomische Block der Welt entstehen. Da liegt es auf der Hand, dass sich nicht nur der Wirtschaftskosmos verändert, sondern auch andere Lebensbereiche von 820 Millionen Menschen in Europa und den USA. Ein Wandel, der vermutlich nicht nur Gutes bringt.

Eine umfassende Aufklärung über die Chancen und Risiken hat es jedoch aus Brüssel und Berlin im Vorfeld nicht gegeben. Erst recht keine öffentliche Debatte darüber, ob die Menschen ein Abkommen, das vor allem der Wirtschaft Vorteile bringen soll, überhaupt wollen. Das sorgt nun zu Recht für Unmut. Schließlich soll die Wirtschaft dem Menschen dienen und nicht umgekehrt. So hat es einst Ludwig Erhard formuliert, der frühere Bundeskanzler und Vater der sozialen Marktwirtschaft. Doch wer soll das prüfen, wenn hinter verschlossenen Türen geschachert wird und Verhandlungspapiere der Geheimhaltung unterliegen.

Ein großer Fehler war es außerdem, vor den Gesprächen nur die Wünsche von Konzernen und Branchenverbänden abzufragen, während Gewerkschaften, Sozialverbände, Umweltschützer und andere Interessengruppen erst gar nicht richtig konsultiert wurden. Dieser schwere Makel lässt sich auch nicht durch die zahlreichen Briefings wettmachen, die EU-Handelskommissar Karel de Gucht seit Beginn der Verhandlungen abhalten lässt. Diese Treffen dienen allenfalls kosmetischen Zwecken. Für eine wirkliche Einflussnahme auf die Gespräche ist es längst zu spät.

Statt Fakten gibt es vage Versprechen über mehr Wirtschaftswachstum und Arbeitsplätze. Dass die prognostizierten Zuwächse gering ausfallen und auf unzuverlässigen Rechenmodellen basieren, ist inzwischen bekannt. Weniger bekannt ist dagegen, dass die bescheidenen Effekte frühestens nach zehn Jahren voll zum Tragen kommen sollen. Negative Effekte können sogar zunächst überwiegen. Das zeigen die Erfahrungen mit früheren Freihandelsabkommen, die meist mit einem Strukturwandel verbunden waren. Das heißt: In einigen Branchen brechen Arbeitsplätze weg. Neue entstehen in anderen Sektoren, aber erst mit einiger Zeitverzögerung.

Risiken für die Exportnation Deutschland lassen sich nicht wegdiskutieren. Wichtige Branchen wie die Auto- und Chemieindustrie haben bereits in den vergangenen Jahren Arbeitsplätze nach Übersee verlagert, weil die Lohnkosten dort niedriger sind. Dieser Trend könnte sich auf einem gemeinsamen Markt durchaus verstärken. Firmen wie VW oder Bayer würden davon profitieren, weil ihre Arbeitskosten sinken. Das Nachsehen hätten jedoch ihre Belegschaften in Deutschland. Genau diese Sorge treibt viele Beschäftigte um. Sie haben den Glauben an Wachstum verloren.

Vor allem Normal- und Geringverdiener bekommen schon länger schmerzhaft zu spüren, dass sie weniger Geld haben. Ihr Wohlstand sinkt, trotz Wirtschaftswachstum. Das bestätigt die Statistik. Seit Anfang der Neunzigerjahre wachsen die Reallöhne in Deutschland langsamer als das Bruttoinlandsprodukt. Zugleich fressen steigende Verbraucherpreise nicht nur Lohnzuwächse, sondern auch einen Teil des restlichen Einkommens auf. Das Gefühl vieler Deutscher, sich in einer schleichenden Wirtschaftskrise zu befinden, ist also nicht falsch. Wer aber profitiert vom Zuwachs der Wirtschaft? Es sind vor allem Firmen und ihre Anteilseigner, von denen viele im Ausland, etwa in den USA, sitzen.

Fest steht: Mehr Wirtschaftswachstum bedeutet nicht automatisch mehr Wohlstand. Doch genau darauf kommt es an: Mehr Wohlstand für alle zu schaffen, das gehört zu den ursprünglichen Zielen des Freihandels, wie der US-Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Paul Samuelson einst betonte. Den TTIP-Machern ist es jedoch nicht gelungen, die Wähler davon zu überzeugen, dass das geplante Abkommen auch für sie Vorteile bringt - und nicht nur für die Unternehmen.

Dabei wäre genau das wichtig. Bürger sind nicht nur Arbeitnehmer, sondern sie sind auch Eltern, Verbraucher oder Patienten, vielleicht auch Umweltschützer, Theaterbesucher oder Vegetarier. Dass viele ihrer persönlichen Bedürfnisse mit den Interessen von Unternehmen kollidieren, liegt in der Natur der Sache. Auf diesem Gebiet prallen auch zwischen den USA und Europa, besonders Deutschland, Welten aufeinander - amerikanischer Kapitalismus gegen die soziale Marktwirtschaft Europas.

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Viele Bundesbürger befürchten, dass die sozialen Errungenschaften in einem gemeinsamen Wirtschaftsraum auf der Strecke bleiben, dass nationale Gesetze ausgehöhlt werden, wenn Konzerne Sonderrechte bekommen und vor privaten Schiedsgerichten auf Schadensersatz klagen dürfen. Ganz egal, ob diese Ängste nun völlig übertrieben sein mögen oder nicht - fahrlässig wäre es, sie nicht ernst zu nehmen. Denn dann könnte sich aus dem Widerstand gegen TTIP eine veritable Vertrauenskrise der Bürger in den Staat entwickeln; und das wäre am Ende viel schlimmer als ein Scheitern des Abkommens.

Die Protestwelle macht deutlich, dass Verträge dieser Art künftig nicht mehr auf diese Weise verhandelt werden können: unter Ausschluss der Öffentlichkeit, geprägt von mächtigen Lobbygruppen. Dafür sind sie zu wichtig, zu tief greifend. Aufgabe des Staates ist es ja nicht nur, die Wirtschaft zu fördern, sondern die Bürger auch vor zu großer Wirtschaftsmacht zu schützen. Hier bedarf es einer starken demokratischen Kontrolle durch Parlamente und die Zivilgesellschaft, und zwar von Anfang an.

Das Problem: Ist die Maschinerie erst einmal in Gang gesetzt, lässt sie sich kaum noch stoppen, das zeigen die transatlantischen Gesprächen in aller Deutlichkeit. Ein Abbruch ist kaum möglich. Ist der Vertrag erst mal ausgehandelt, ist es für Korrekturen zu spät. Es gibt dann nur noch die Möglichkeit, ihn als Ganzes anzunehmen oder abzulehnen. Bürgern und selbst Abgeordneten des EU-Parlaments bleibt nichts mehr, als darauf zu vertrauen, dass die EU-Verhandlungsführer in ihrem Sinn agieren und keine Fehler gemacht haben. Denn ist das Abkommen unterschrieben, gibt es kein Zurück mehr. Bleibt noch der Fall, dass die Gespräche scheitern. Das ist zwar eher unrealistisch, wäre aber keine Katastrophe. Die Handelsbeziehungen zwischen der EU und den USA sind schon jetzt eng, daran wird sich so schnell nichts ändern - und das Problem, dass Autos in den USA und Europa unterschiedliche Blinker benötigen, lässt sich auch anders lösen.

In jedem Scheitern liegt die große Chance, es besser zu machen

Wenn das geplante transatlantische Wirtschaftsbündnis nicht zustande kommt, bedeutet das auch nicht das Ende des Freihandels. In jedem Scheitern liegt die große Chance, es besser zu machen. Angesichts des großen Widerstands wäre es ohnehin besser, noch einmal von vorn anzufangen, mit dem Ziel ein wirkliches faires Abkommen abzuschließen, von dem Unternehmen und Bürger gleichermaßen profitieren - transparent geplant und von Anfang an offen diskutiert.

Die EU-Regierung sollte dann auch eigene Ziele definieren, an denen sich die Wirtschaft orientieren kann, etwa Ziele für bessere Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards. Öffnungsklauseln sollten es zudem Drittstaaten wie China ermöglichen, sich ebenfalls zu beteiligen. Ein solches Abkommen hätte Vorbildcharakter für andere Verträge. Es könnte sogar neue Impulse für die ins Stocken geratenen Bemühungen um eine Welthandelsordnung setzen.

Was die Welt nicht braucht, ist ein Abkommen, mit dem sich die alten Industrienationen, die an Einfluss verlieren, gegen aufstrebende Nationen wie China, Brasilien oder Entwicklungsländer abschotten. In einer globalisierten Welt, in der die Rohstoffe für Smartphones aus Afrika kommen, Geräte in China zusammengebaut und dann von großen Konzernen in den USA und Europa vertrieben werden, ist das auch aus ökonomischer Sicht falsch.

Das zu erkennen, wäre eigentlich nicht schwer, doch es braucht Mut, daraus die richtigen Konsequenzen zu ziehen. Langfristig wird daran kein Weg vorbei führen, dafür steht zu viel auf dem Spiel. Denn eine gerechtere Weltwirtschaft leistet auch einen entscheidenden Beitrag, wenn es darum geht politische und soziale Konflikte zu entschärfen. Wenn nicht die großen Wirtschaftsmächte damit anfangen, wer soll es dann tun?

© SZ vom 16.08.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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