This:Ein Netzwerk wie ein Tarantino-Film

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"Reservoir Dogs" von Quentin Tarantino gefällt nicht allen - hat aber echte, treue Fans. Genauso möchte "This" sein. (Foto: imago stock&people)

Wenn Facebook der "Fluch der Karibik" der sozialen Netzwerke ist, möchte "This" ein Independent-Film sein - mit wenigen, aber treueren Fans. Das klappt erstaunlich gut: Nirgendwo sonst findet man so zuverlässig lesenswerte Texte.

Von Simon Hurtz

Dürfte ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Für, sagen wir, zwei Minuten? Damit lehne ich mich weit aus dem Fenster. Die meisten Leser klicken nach spätestens 30 Sekunden weiter. Wer sein Publikum länger binden will, muss schon etwas Besonderes bieten. Katzenvideos zum Beispiel. Oder Pandabären-Babys. Dabei schreibe ich doch nur über ein soziales Netzwerk, das niemand kennt. Ich muss mir also Mühe geben.

Beide Dinge - die schwindende Aufmerksamkeitsspanne und das soziale Netzwerk This - hängen eng miteinander zusammen. This will dem steten Weiterklick-Impuls den Garaus machen, will Menschen dazu bringen, lieber einen Text in Ruhe zu lesen, als fünf zu überfliegen. Und das klappt erstaunlich gut.

Nach 15 Sekunden haben mehr als die Hälfte der Leser die Lust verloren

Wenn das Verhalten von SZ.de-Lesern den Gewohnheiten der gemeinen Internetnutzer entspricht, habe ich mittlerweile schon mehr als die Hälfte von Ihnen verloren. Chartbeat, ein Unternehmen, das Daten über das Surfverhalten auswertet und dabei auch die Verweildauer ermittelt, hat über 2 Milliarden Besuche auf Websites analysiert und dabei herausgefunden: Nach 15 Sekunden sind 55 Prozent der Besucher einer Website wieder weg.

Hey, wo wollen Sie denn hin? Etwa zu Twitter oder Facebook, um diesen Text zu teilen? Dabei haben Sie ihn doch gar nicht zu Ende gelesen. Aber auch damit wären Sie nicht alleine: Chartbeat zufolge besteht keine statistisch signifikante Korrelation zwischen Verweildauer und der Zahl der Tweets, Likes und Shares. Anders ausgedrückt: Viele Leute teilen Texte, die sie gar nicht oder nur in Auszügen kennen.

This will kein zweites Facebook sein - zum Glück

An dieser Stelle kommt This ins Spiel. Im Gegensatz zu vielen mehr oder weniger gescheiterten Projekten ( App.net, Diaspora, Ello) hat This gar nicht vor, ein besseres Twitter oder Facebook zu sein. Im Hintergrund arbeitet kein Algorithmus, es gibt keine Chatfunktion, keine Hashtags, keine Suche. Man kann dort genau vier Dinge tun: Texte teilen, Leuten folgen, die Links anderer Leute teilen und sich dafür bedanken. Die entscheidende Einschränkung: Pro Tag darf man nur einen einzigen Artikel empfehlen.

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Dieses Prinzip der künstlichen Verknappung unterscheidet This von anderen sozialen Netzwerken. Wer seine Freunde und Follower nicht mehr mit Links überschütten kann, denkt viel genauer darüber nach, was er teilt. Bei This gibt es keine Breaking News, keine Durchschnittstexte und keine Katzenvideos (na gut: nur ganz wenige Katzenvideos). Stattdessen empfehlen die Nutzer Inhalte, die sie wirklich gerne gelesen oder angeschaut haben. Inhalte, die sie zum Nachdenken angeregt haben. Inhalte, von denen sie denken, dass sie von mehr Menschen wahrgenommen werden sollten.

Ein Bild, eine Überschrift, ein kurzer Teaser - die Empfehlungen bei This überwältigen nicht gerade mit optischer Opulenz. (Foto: Screenshot / this.cm)

Der Newsfeed von Facebook "überfordert uns mit Empfehlungen von Dingen, für die wir uns womöglich interessieren könnten", erklärte Andrew Golis im vergangenen September seine Motivation, This zu entwickeln. "Das Ziel ist es, weniger Empfehlungen von weniger Menschen zu bekommen - dafür aber von Menschen, denen wir wirklich vertrauen." Maßgeblich für die Gründung von This war ein ganz persönlicher Wunsch von Golis: "Ich würde mir wünschen, dass ich jeden Abend eine Mail von meinem Freund und Kollegen Ta-Nehisi Coates (ein bekannter Journalist beim amerikanischen Magazin The Atlantic) bekomme, in der nichts steht außer: 'This' und dazu ein Link."

Ein Hollywood-Blockbuster ist erfolgreich, weil sehr viele Menschen den Film interessant genug finden, um sich ein Kinoticket zu kaufen. Genauso funktioniert Facebook: Wenn sehr viele Menschen einen Artikel interessant genug finden, um ihm ein "Gefällt mir" zu schenken, interpretiert Facebook das als ein Kriterium für Relevanz und zeigt den Artikel noch mehr Menschen an. Statt Inhalten, die viele Menschen relativ gerne möge, will Golis Inhalte sammeln, die wenige Menschen wirklich gerne mögen. Wenn Facebook also der "Fluch der Karibik" der sozialen Netzwerke ist, möchte This ein Tarantino-Film sein - mit kleinerer Zielgruppe, aber treueren Fans.

Facebook ist ein Hollywood-Blockbuster - This dagegen ein Independent-Film. (Foto: imago stock&people)

Nach ein paar Monaten bei This kann ich eindeutig sagen: Einer dieser Fans bin ich. Man merkt der Plattform zwar an, dass sie noch in einer geschlossenen Beta-Phase ist: Bislang teilen dort weniger als 10.000 Menschen (überwiegend englischsprachige) Texte, die Oberfläche wirkt bisweilen karg (positiv ausgedrückt: angenehm aufgeräumt) und es gibt keine mobile Version (Ergänzung: Man kann sich momentan nur mit einem Invite-Code anmelden. Ich habe leider keine Einladungen mehr übrig). Das macht aber nichts, solange die Seite ein steter Quell bemerkenswerter Links bleibt, die ich sonst nicht gefunden hätte.

This ist die allabendliche Wochenendzeitung

Der eigentliche Star ist aber der Newsletter: Jeden Werktag verschickt Golis eine Mail, die genauso simpel aufgebaut ist wie die Seite selbst. Sie heißt "Today's 5" und enthält fünf Links, nicht mehr und nicht weniger. Golis wählt die besten oder lustigsten, wichtigsten oder bewegendsten Texte aus, die im Verlauf des jeweiligen Tages auf This geteilt wurden, ergänzt einen kurzen Teaser, manchmal auch nur ein besonders prägnantes Zitat - und fertig.

Der Newsletter enthält jeden Tag nur fünf Links. Das Entscheidende: Es sind gute Links. (Foto: Screenshot / this.cm)

Die Mail ist deshalb so gut, weil die Themen darin so gut sind. Ich habe eindeutig zu viele Newsletter abonniert (eine deutlich zweistellige Zahl) und lösche viele davon sofort. Die tägliche Linkschau von This lese ich immer. Jedes Mal macht mich mindestens einer der Links so neugierig, dass ich ihn anklicke, fast jedes Mal lese ich den entsprechenden Text - und so gut wie nie bin ich danach enttäuscht, weil das Versprechen des Teasers nicht eingehalten wurde.

Für mich ist This so etwas wie das allabendliche, digitale Pendant zur Wochenendzeitung. Die schlage ich auf, ohne genau zu wissen, was mich erwartet - aber trotzdem vorfreudig, weil ich weiß, dass ich gleich kluge oder überraschende Dinge lesen werde. Mit der gleichen Erwartungshaltung nutze ich This: Ich habe keine Ahnung, was kommt - aber ich bin sicher, dass es gut wird.

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