Es war ein ungewöhnlicher Transport, der da im Januar 2010 von München nach Berlin rollte: 300 Aktenordner stapelten sich in dem Lkw, alle gefüllt mit Kontoauszügen. Ihr Ziel: das Büro der Berliner Firma Zinspruef. Dort nahm der Kreditsachverständige Ralph Hans Brendel die Fracht in Empfang.
Er und seine Mitarbeiter durchforsteten jeden Auszug danach, ob die Banken bei der Berechnung fälliger Kreditzinsen Fehler gemacht hatten. Das Ergebnis: Sie hatten - und nicht zu knapp. Fast 2,7 Millionen Euro hatten die Geldhäuser dem Kontoinhaber über zehn Jahre hinweg zu viel abgezogen.
"Als ich das erfuhr, habe ich ziemlich dumm geschaut", erzählt Anton Reich heute. "Ich konnte es nicht glauben." Der Münchner Unternehmer hatte die Aktenordner auf die Reise geschickt, um sie prüfen zu lassen. Ein Jahr zuvor hatte er sich entschlossen, sein Autohaus zu liquidieren. Massive Verluste hatten den Ford-Händler zu diesem Schritt gezwungen. Nun erfuhr er, dass die Hausbanken dem Betrieb über Jahre hinweg Zinsen abgezogen hatten, die sie nicht hätten kassieren dürfen.
Es geht um "Milliardensummen"
Für Ralph Hans Brendel ist das nichts Neues. "Bei sieben von zehn unserer Klienten finden wir solche Abrechnungsfehler", sagt der Sachverständige, der die Berliner Zinspruef seit 1989 fachlich leitet. "Das geht vom Studienkredit bis zum Darlehen für den Großbetrieb." Aufgrund von Gutachten seiner Kanzlei haben Banken allein 2011 knapp 13 Millionen Euro zurückerstattet - an mittelständische Firmen, Handwerker, Freiberufler oder normale Privatleute. "Deutschlandweit", glaubt Brendel, der auch Vorsitzender des Bundesverbandes der Kreditsachverständigen ist, "geht es um Milliardensummen."
Man mag es schwer glauben, doch nach Aussage von Sachverständigen wie Brendel prellen die Banken viele Kunden, die bei ihnen ein Darlehen aufnehmen, eine Kreditlinie eingeräumt bekommen oder mit dem Konto ins Minus rutschen, Jahr für Jahr um riesige Beträge. Das funktioniert, indem sie etwa zu viele Zinstage berechnen, die Zinsen bei variablen Krediten nicht mit dem Marktzins senken, Beträge dem Konto zu spät gutschreiben oder Abbuchungen zu früh belasten.
Solche Falschberechnungen gebe es flächendeckend und systematisch, sagt Olaf Kumpfert. Der Autor hat rund 170 Gutachten durchgearbeitet, in denen verschiedene Kreditsachverständige den Banken Fehler bei der Zinsberechnung nachweisen. Am häufigsten finde der "Zinsklau" - so der Titel des Buches, das Kumpfert dazu veröffentlicht hat - bei Banken und Sparkassen statt. Doch auch für private Institute, die sich ungerechtfertigt bei ihren Kunden bedient haben sollen, gibt es Beispiele.
Bei Anton Reich waren es drei deutsche Großbanken. "Eine davon ist seit 1945 unsere Hausbank", berichtet der 60-Jährige. Direkt nach dem Krieg hatte sein Vater das Autohaus Niedermair & Reich gegründet. Autohändler benötigen für die Ankäufe der Fahrzeuge hohe Kreditlinien. "Wir hatten immer Kredite von 20 Millionen Euro und mehr", erläutert der Kaufmann. "Die Banken haben gut an uns verdient." Wie gut, das sollte Reich erst feststellen, als es für seinen Betrieb zu spät war. 2008 geriet das Autohaus in ernste Schwierigkeiten. Ein Jahr später entschied Reich, die Firma zu liquidieren. Um sie ordentlich abzuwickeln, setzte er viel seines privaten Vermögens ein. Mit Hilfe des Liquidators Wolfgang Kottenberg brachte Reich fast alle seiner 160 Beschäftigten anderswo unter, suchte sich eine neue Bank und zahlte die Kredite bei den Hausbanken zurück.
Dann ließ der Händler die bisherigen Bankkonten auf Fehler prüfen. "Fast alle Konten wurden falsch berechnet", erläutert Sachverständiger Brendel. Allein die größte Bank kassierte nach seinen Angaben mehr als 1,2 Millionen Euro zu viel. Bei den anderen beiden kamen 1,5 Millionen zusammen. "Die Summe hat uns geschockt", sagt Wolfgang Kottenberg. Die Liquidation wäre nicht nötig gewesen, wenn dem Betrieb das Geld zur Verfügung gestanden hätte, glaubt der Unternehmensberater: "Wir hätten mehr Zeit gehabt, einen Investor zu finden." Anton Reich sieht es ähnlich. Der Aderlass sei nicht der Hauptgrund für das Aus gewesen, aber das "hat uns sicher mit in die Liquidation gezwungen".
Auch Heinz Markwart hat seine Firma abgewickelt. Der 65-Jährige möchte seinen richtigen Namen nicht nennen. Demnächst hat der Software-Experte eine Güteverhandlung mit seiner Bank. Er will eine mögliche Einigung nicht gefährden. Markwart hat das Sparkasseninstitut aus dem Schwäbischen auf Zahlung von 290.000 Euro verklagt. Geld, das ihm die Bank von 1998 bis 2011 zu viel von seinem Konto abgezogen hat. So steht es im Gutachten des Kreditsachverständigen. Gut 14.000 Buchungen nahm der Experte unter die Lupe. Exakt 5300 Mal unterliefen der Bank dabei Wertstellungsfehler - das heißt: Sie verrechnete Gutschriften zu spät und verbuchte Lastschriften früher, als sie anfielen.
Ob Markwart das nie bemerkt habe? "Das kriegen Sie im täglichen Geschäft nicht mit", meint der Unternehmer. Erst recht nicht die fehlenden Anpassungen bei den variablen Kreditzinsen: "Wer weiß schon, wo der Marktzins gerade steht - und ob die Bank ihren Zins korrekt nachzieht?" Mehr als fünf Prozentpunkte zu viel verlangte das Institut mitunter, zum Teil über Monate hinweg. Der Zinsklau sei zwar nicht die Ursache dafür, dass er sein Geschäft aufgeben musste. "Daran waren ständige Verzögerungen bei einem Großprojekt schuld", erklärt er. "Aber die überhöhte Zinslast hat die Weiterentwicklung der Firma behindert."
Axel Brauer stieß durch Zufall auf die Unregelmäßigkeiten. "Da waren 50.000 Euro vom Konto weggegangen, die wir uns nicht erklären konnten", erinnert sich der Berliner. Daraufhin sahen er und sein Mitarbeiter die Kontoauszüge seiner Immobilienfirma ganz genau durch. Sie stießen auf weitere merkwürdige Abbuchungen. "Ich dachte, das gibt es gar nicht", erzählt Brauer. "Wir sind doch bei einer seriösen Volksbank, nicht bei einer Wechselstube weiß Gott wo." Als Brauer das Ergebnis der Kontenprüfung sah, war er sich da nicht mehr so sicher: Fast 1,6 Millionen Euro fehlten wegen fehlerhafter Abrechnungen. "In allen Fällen hatte sich die Bank zu ihren Gunsten verrechnet", berichtet Brauer. An Zufall glaubt der Unternehmer nicht. Auch nicht bei jener Buchung, die sich auf einem Auszug von August 2011 findet: 121.523 Euro stehen da. Kreditkosten, mit denen die Bank das Geschäftskonto belastete für ein Darlehen, für das Brauer die Zinsen im betreffenden Zeitraum schon bezahlt hatte. "Bermuda-Buchung", nennt Sachverständiger Brendel solche Posten: "Da wird Geld einfach abgebucht - ohne ersichtlichen Grund."
Den Betrag hat Brauer inzwischen wieder zurückbekommen. Anfang dieses Jahres hat er sich überdies mit seiner Bank auf einen Vergleich geeinigt: 1,3 Millionen Euro zahlt das Institut zurück. "Aber mein Fall", so glaubt er, "ist nur die Spitze des Eisberges."
Bei den Bankenverbänden weist man solche Mutmaßungen zurück. Man solle sich doch "bitte mal die Kundenbeschwerden der Ombudsmann-Berichte anschauen", teilt der Bundesverband der Volks- und Raiffeisenbanken mit. Diese legten "keinen Hinweis auf systematische Falschrechnungen nahe". Der Deutsche Sparkassen- und Giroverband betont: Abrechnungen im Kundengeschäft würden bis auf wenige Ausnahmen automatisch gestellt und unterlägen mehrfacher Prüfung: "Eine systematische Benachteiligung der Kunden würde sofort auffallen." Zwar seien fehlerhafte Abrechnungen "in der manuellen Bearbeitung in Einzelfällen nicht zu 100 Prozent auszuschließen". Das sei aber kein Grund anzunehmen, dass sie "in nennenswertem Umfang vorkommen".
Der Bundesverband deutscher Banken verweist darauf, dass gerade die Zinsanpassung sehr genau geregelt sei. "Im Lichte jener von Gesetz und Rechtsprechung normierten Vorgaben", heißt es, "unterrichten Kreditinstitute ihre Kunden heute auch detailliert über die Art und Weise der Zinsanpassung." Bei Fragen zum Kreditvertrag solle sich der Kunde "mit seiner Bank in Verbindung setzen".
Anton Reich kann über solche Aussagen nur den Kopf schütteln. "Wenn es Schwierigkeiten gibt, dann werden sie als Kreditnehmer dort wie ein Fußabtreter behandelt", sagt er. "Die Banken haben nichts getan, um uns zu unterstützen." Im Gegenteil: Reich spricht von "Psychoterror" seinen Mitarbeitern gegenüber. Diese hätten schon Magenschmerzen bekommen, wenn sie nur die Nummer der Bank im Telefondisplay gesehen hätten.
Den Zinsklau will Reich den Geldhäusern nicht durchgehen lassen. Mit einem der drei führt er Gespräche über einen Vergleich. Die anderen weigern sich. Reich wird sie verklagen - wenn es sein muss, durch alle Instanzen. "Wissen Sie, was mir stinkt?", meint er dann. "Wenn ich sehe, wie diese Banken Milliarden verspekulieren - und dann kleine Mittelständler ausnehmen und an die Wand drücken."