Strukturwandel in Bochum:Man kann sich auch an Katastrophen gewöhnen

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Opel und die Handy-Fertigung von Nokia, das sollte nach dem Niedergang der Bergbauindustrie die neue Zukunft sein. Doch vor vier Jahren machte Nokia in Bochum dicht, jetzt geht es um das Opel-Werk. (Foto: dapd)

Bochum hat schon manchen K.-o.-Schlag erlebt: den Niedergang von Kohle und Stahl, den Rückzug von Nokia. Jetzt droht auch dem Opel-Werk das Aus. Doch in der Stadt gibt es Menschen, die sagen: Wir können mehr als Autos bauen.

Karl-Heinz Büschemann, Bochum

Raimund Ostendorp kommt gleich zur Sache. Er begrüßt den Gast gar nicht erst mit "Guten Tag" oder "Tach", wie man im Ruhrgebiet sagt. Er sagt schon beim Handschlag: "Wir erzeugen hier ein Wirgefühl." Schon klar, hier ist ein Missionar am Werk. Der 43-Jährige betreibt in Bochum-Wattenscheid den "Profi-Grill", die wohl bekannteste Pommesbude im Revier. Die Gegend hier hat schon bessere Zeiten gesehen. Schräg gegenüber hat vor 50 Jahren die Zeche Centrum zugemacht, und noch heute ist die Wunde zu sehen, die das Ende des Kohlebergwerks in dieses Viertel geschlagen hat. Der Aldi-Markt kann die Leere auf dem alten Zechengelände nicht verdecken.

Ostendorp ist vor 22 Jahren vom Niederrhein hierher gezogen. Er wollte im Revier leben, das für eine ganz eigene Kultur bekannt ist, das aber auch für Krise und industriellen Niedergang steht. Er war früher Koch in einem Düsseldorfer Sternerestaurant, deshalb ist er hier eine Berühmtheit und musste schon so manches Interview geben.

Ostendorp, der längst wie ein Bochumer spricht, will mit den Menschen in Kontakt kommen, sagt er. Und die meisten stehen hier nicht nur, weil sie eine Currywurst des Meisters essen wollen. "Sie kommen, weil sie quatschen wollen." Hier machten sich doch alle Gedanken um die Region, der es immer schlechter gehe. "Das ist der Stimmung der Menschen nicht förderlich."

Handys und Autos sollten die Zukunft sein

Bochum, die einstige Metropole für Kohle und Stahl mit noch 380.000 Bewohnern, zwischen Essen und Dortmund eingeklemmt, steht wieder einmal vor einer Krise. Opel und die Handy-Fertigung von Nokia, das sollte nach dem Niedergang der Bergbauindustrie die neue Zukunft sein. Doch vor vier Jahren machte Nokia in Bochum dicht, 2200 Menschen verloren ihre Arbeit. Von Sauerei war die Rede und von einem K.-o.-Schlag für die Stadt. Jetzt geht es um das Opel-Werk mit 3200 Jobs. Sollte das schließen, sagen einige, wären bis zu 40.000 Jobs in der Region betroffen.

Es geht ja nicht nur um Opel. Sondern auch um viele Zulieferbetriebe und Dienstleister. Noch hofft die Stadtverwaltung, noch kämpft der Betriebsrat für das Autowerk. "Wir haben dieses Unternehmen groß gemacht", gibt sich der Vorsitzende des Betriebsrates, Rainer Einenkel, angriffslustig. "Wir werden es niemals zulassen, dass die Manager dieses Unternehmen und das Bochumer Werk an die Wand fahren." Opel sei Bochum und Bochum sei Opel.

"Wir gehen davon aus, dass das Werk geschlossen wird"

In der Straßenbahn 302 hört sich das anders an. Während die Tram an den abrissreifen Werksanlagen von Krupp in Richtung Stadtmitte fährt, kommen wir mit einem Bochumer türkischer Herkunft, etwa um die 60, ins Gespräch. Er habe vor mehr als 30 Jahren bei Thyssen im nahen Hattingen gelernt, erzählt er. "Kein Mensch hat geglaubt, dass es mit der Stahlindustrie so schnell bergab geht." Und was ist mit Opel? "Wir gehen davon aus, dass das Werk geschlossen wird", sagt der Mann. Er muss die Lage nicht schönmalen wie die Politiker.

Ulrike Kleinebrahm hat die Entwicklung aus der Nähe erlebt. Als 1. Bevollmächtigte der IG Metall in Bochum war sie für fast jeden Krisenfall in der Stadt zuständig. Demnächst geht sie in den Ruhestand, und es sieht so aus, als habe sie die Nase voll von Katastrophen. Opel, erzählt sie, das seien in den besten Zeiten mal 20.000 Arbeitsplätze gewesen. Heute ist nur noch ein Bruchteil davon übrig, und sollte das Werk geschlossen werden, dann sei auch der Betrieb von Johnson Controls in Gefahr, der die Sitze für die Astras und Zafiras liefert. "Das Fiasko ist absehbar."

Zu allem Überfluss drohe auch noch die Schließung des Nirosta-Edelstahlwerkes von Thyssen-Krupp mit 450 Beschäftigten. Das fürchten sie hier. Der Essener Konzern hat sich mit einem Stahlwerk in Brasilien übernommen und macht Milliardenverluste. "Noch hält der große alte Mann die Hände über uns." Kleinebrahm meint damit Berthold Beitz, der noch immer das entscheidende Wort in dem Traditionskonzern hat. Aber der ist 98 Jahre alt. "Irgendwann kommt der Tag . . .", sagt sie und bringt den Satz nicht zu Ende. Sie hat nasse Augen. Die Stahlwerke von Thyssen-Krupp in Brasilien, "die reißen uns hier mit", sagt Kleinebrahm bitter.

Bochums Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz muss Investoren in die Region zu locken. Doch die Menschen sind mürbe. (Foto: dpa)

Aber sofort hat sie sich wieder im Griff. Es sei ja nicht alles schlecht hier, der Standort habe noch immer einiges zu bieten. "Bochum hat einen guten Industriemix", sagt sie, viele Mittelständler und Familienbetriebe. Erfolgreiche Unternehmen allesamt, manche seien weltweit führend.

Kleinebrahm ist in Duisburg geboren, aber ihre Wahlheimat findet sie einfach klasse. "Hier ist doch tausendmal mehr los als woanders", schwärmt sie. Hier gebe es den "Starlight Express", das Rollschuh-Musical von Lloyd Webber, das seit 22 Jahren eine eigene Halle füllt. Jeder kenne das Schauspielhaus und, nicht zu vergessen, "das Bermuda-Dreieck", das Kneipenviertel von Bochum. Doch es gibt auch noch eine Realität, die die resolute Gewerkschafterin nicht schönreden kann. "Wir konnten die Jobs nicht wieder aufbauen, die wir verloren haben."

Detroit entscheidet über die 380.000-Einwohner-Stadt

Investoren in die Region zu locken, das ist Aufgabe von Oberbürgermeisterin Ottilie Scholz, 63. Zum Thema Krise kann die zierliche Frau mit der randlosen Brille viel erzählen. Es war 2004, ihr erster Arbeitstag als OB, morgens um neun. Da kam die Nachricht, General Motors wolle das Opel-Werk in Bochum schließen. Die Empörung war groß, und es gab einen riesigen Protestzug, "der ging vom Werk bis zum Schauspielhaus". Mehr als 20.000 Leute waren für die Opel-Arbeiter auf die Straße gegangen. Damals konnten sie den Eigentümer General Motors beeindrucken. Und jetzt? "Wir werden am 28. Juni hören, wie Detroit entschieden hat." Bochum wartet.

Dabei war Scholz gerade noch froh gewesen, dass die Arbeitslosigkeit in der Stadt unter die Zehn-Prozent-Marke gerutscht war. Für die Region ein guter Wert, aber die Freude darüber wird von kurzer Dauer sein. "Was bei Opel passiert, das drückt auf die Stimmung", sagt die Oberbürgermeisterin. Vor acht Jahren seien die Menschen noch kämpferisch gewesen. Heute sei das anders. Die ständige Sorge um die Jobs "macht die Menschen mürbe". Das Schlimmste sei das Verlierer-Image der Stadt. Das müsse man bekämpfen. Es ergebe sich doch immer etwas Neues, und manchmal könne man einfach nichts machen. "Glauben Sie mir", sagt sie, "man kann sich sogar an Katastrophen gewöhnen."

"Wir haben viele Potenziale in der Stadt"

Manchmal schaut die SPD-Politikerin im Gespräch suchend auf den Boden in ihrem Büro oder hinaus aus dem Fenster, als wären dort Lösungen zu finden. Einmal rutscht ihr das "Sch . . ."-Wort heraus, es ist ihr keine Sekunde peinlich. Und dann sagt sie trotzig: "Wir haben viele Potenziale in der Stadt." Die Stadt habe schon viel verkraftet.

Sie redet vom Theater und vom neuen Gesundheitscampus NRW, für den die Stadt den Zuschlag erhielt und der Arbeitsplätze bringt. Und natürlich spricht sie von der Universität. Die ist jetzt der größte Arbeitgeber der Stadt und deren große Hoffnung: Die Hochschule soll neue Unternehmen mit anspruchsvollen Jobs bringen.

Und Opel? Ach Opel. Mit einer Handbewegung wischt Scholz das Thema beiseite, als hätte sie es schon abgehakt. Gewerbesteuern bekommt die Stadt von ihrem größten privaten Arbeitgeber schon lange nicht mehr. Das war damals bei Nokia viel schlimmer. Da waren der Kommune über Nacht 25 Millionen Euro an Steuereinnahmen weggebrochen. Nokia ist noch heute ein Trauma für diese Stadt.

Und plötzlich, ganz unvermutet, fragt sie: "Kennen Sie den Steiger Award?"

Die Idee für diesen Preis, der seit 2005 jedes Jahr im März verliehen wird, hatte der Medienberater Sascha Hellen. Der 34-Jährige stürmt zum verabredeten Termin ins Café und fragt erst mal nach einer Steckdose für sein ermattetes Handy. Hellen ist einer von diesen Hyperaktiven, die problemlos ihre Smartphones leerquatschen. Man kann seinen Stakkato-Sätzen kaum folgen. Aber das ist schnell klar: Hellen tut viel für seine Heimatstadt. Bochum sollte ihn als Image-Pfleger bezahlen.

Sehnsucht nach positiven Schlagzeilen

Hellen war mal Journalist, dann Pressesprecher bei der Unesco in Bonn, später organisierte er für Paul McCartney und dessen frühere Ehefrau Heather Mills eine Kampagne gegen die tödlichen Gefahren von Minenfeldern. Für die Stiftung des Sängers Peter Maffay veranstaltet er Symposien. In seinem iPhone sind die Nummern von Israels Präsidentem, Shimon Peres, vom südafrikanischen Bischof Desmond Tutu, von Carlos Santana, Michael Gorbatschow oder dem Dalai Lama gespeichert.

Den Steiger Award, ein in eine Kristallkugel eingearbeitetes Kohlestück, haben Menschen wie der Theologe Hans Küng bekommen, Afghanistans Präsident Hamid Karsai, EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso oder die Schauspielerin Claudia Cardinale. Die Auszeichnung ist nicht dotiert, aber für Bochum ist sie Gold wert.

Einmal im Jahr kann sich die Stadt positiver Schlagzeilen sicher sein. Es sei denn, der Preis wird, wie in diesem Jahr, an den türkischen Ministerpräsidenten Racep Erdogan verliehen. Da gab es Kritik. Zum Glück für Bochum hat Erdogan abgesagt, wegen anderer Termine. "Bochum muss sich nicht verstecken", sagt Hellen. "Die Stadt ist mehr als Opel und Nokia."

Exzellenz für Bochum

Also auf dorthin, wo neue Jobs entstehen - zur Ruhr-Universität im Süden der Stadt. Auf dem riesigen Campus reihen sich lange Betonbauten nebeneinander. Man könnte denken, dass die Stadtväter damals, bei der Gründung vor 50 Jahren, mit der Universität nicht viel zu tun haben wollten - und sie an den Rand verdrängten. Schön ist sie nicht. Aber die Bochumer haben ihre RUB inzwischen schätzen gelernt. Die Universität macht Bochum jünger, der Campus ist ein Ort der Hoffnung.

Kann der Rektor die Erwartungen erfüllen, die auf der Hochschule ruhen? Elmar Weiler, der in der kommenden Woche 63 Jahre alt wird, ein schlanker Herr mit kreisrunder Hornbrille und Charakterkopf, ist Biologe, genauer: Professor für Pflanzenphysiologie. Die Forschung hat er nach der Wahl zum Rektor an den Nagel gehängt.

Weiler sieht die Dinge nüchtern. Der Abbau der industriellen Arbeitsplätze werde weitergehen, sagt er. Deshalb müsse die Stadt gegensteuern und neue Industrien ansiedeln. Der Trend gehe weg von der Arbeit mit den Händen zu "wissensbasierten Arbeitsplätzen". Da kann die Universität eine Menge tun. Sie hat schon dafür gesorgt, dass sich neue Firmen auf dem Campus und rundum angesiedelt haben. Das müsse weitergehen. Die Stadt müsse Anreize für Investoren bieten, sagt er. "Wir können nicht erwarten, dass die Unternehmen Schlange stehen." Weiler engagiert sich, weit über die Universität hinaus. Wer am Bahnhof ankommt, wird von einem Plakat begrüßt, auf dem der Professor gemeinsam mit der Oberbürgermeisterin für die Stadt wirbt. "Wir wollen es wissen. Exzellenz für Bochum" steht darauf.

Er wurde hier geboren, hat in Bochum studiert, und auch als Wissenschaftler hat er "seine" RUB nur für kurze Zeiten verlassen. Rufe anderer Universitäten lehnte er ab. "Ich bin jetzt in der Phase, wo ich etwas zurückgeben kann." Und zurückgeben, das heißt für ihn auch, der Stadt ein neues, innovatives Image zu verleihen, die Universität stärker in den Köpfen zu verankern. Er hoffe, "dass es in Bochum bald einen Stadtteil gibt, der ,Campus' heißt". So wie es ja auch ein Viertel mit Namen Stahlhausen gibt. Die Universität, so sieht es Weiler, könne der Stadt "einen Grund geben, stolz zu sein".

Für den Stolz sorgt auch eine andere Institution: das Schauspielhaus. Bombastisch steht es an der Kreuzung von Königsallee und Oskar-Hoffmann-Straße. Intendant Anselm Weber sagt, sein Theater sei "wie eine Titanic auf dem Starnberger See". Ein großes Theater, im wahren Wortsinn, mit 800 Plätzen, eine der angesehensten Bühnen der Republik. Nur ist sie inzwischen arm - wie die Stadt. Am Eingang steht ein Plakat mit einer Entschuldigung. Einige Sessel im Theater seien verschlissen. "Leider sind wir nicht in der Lage, alle betroffenen Stühle zeitnah auszubessern."

Durchgewetzte Sitze, es fehlt das Geld

Anselm Weber, 1963 in München geboren, muss den Ruhm des Hauses erhalten, der von großen Vorgängern wie Peter Zadek oder Claus Peymann in den siebziger und achtziger Jahren gelegt wurde. Und er muss Bochum helfen, nicht in Depression zu versinken. In seinem nüchternen, rundherum weißen Arbeitszimmer, dessen einziger Farbklecks ein langer Besprechungstisch mit roter Platte ist, hängt ein Zettel, mit dem großgeschriebenen Satz: "Klingt logisch. Ist aber so." Sieht so aus, als habe Weber ein unverkrampftes Verhältnis zur Realität.

Krisengerede mag der Theatermann nicht. Bevor er 2010 hierher kam, war er fünf Jahre am Theater in der Nachbarstadt Essen, der es auch nicht besser geht als Bochum. "Ich rede seit acht Jahren ständig über Geld. Na, und?", sagt er. Für die Menschen hier sei die Krise ein Dauerzustand. Da könne er sich nicht einreihen und mitklagen. "Menschen in der Krise wollen nicht dauernd die Krise sehen." Doch dann macht der Intendant eine Rechnung auf, die als Warnung an die Stadt- und Landespolitiker verstanden werden kann. Die könnten es mit dem Sparen auch übertreiben, sagt er. Die Kunst sei der Mittelpunkt des Lebens. "Wenn man die Region im Stich lässt, sind die Folgekosten viel größer." Dann sähe es in den Ruhrstädten bald aus wie in den Zentren mancher US-Stadt. Ohne Leben und leer.

Am Ende bleibt ein Lebensgefühl

"In dieser Region leben 160 Nationen nebeneinander - friedlich", sagt Weber und setzt ein Lächeln auf. "Das ist doch eine Leistung." In Bochum müsse sich niemand nachts auf der Straße Sorgen um die eigene Sicherheit machen. Das müsse so bleiben, dazu will er beitragen: "Man kann doch hier nicht einfach die Tür zumachen."

Da klingt der Kulturmann Weber so ähnlich wie der Kultwürstchenbrater Ostendorp in Wattenscheid. Der glaubt zu wissen, dass sich die Menschen hier ihren Optimismus bewahren - auch in der Krise. "Der weicht nicht", versichert er. Wenn der Grill-Chef über das Ruhrgebiet und seine Menschen philosophiert, fragt er nach jedem dritten Satz: "Haben Sie das verstanden?" Er sagt das dann so schnell, dass die Frage nur aus drei Silben zu bestehen scheint: "Haverstann?"

Ostendorp gehen Sätze wie "Das Ruhrgebiet ist Tradition und Hoffnung zugleich" so locker über die Lippen, weil er sie schon oft in Mikrofone gesprochen hat. Ganz ähnlich auch der Begriff "Lebensgefühl Ruhrgebiet". Und was ist das? Da muss sogar der Currywurstphilosoph nachdenken. Minutenlang sucht er nach dem richtigen Wort. Dann sagt er unsicher: "Das ist so was wie geborgen sein" Sofort schüttelt er den Kopf. Er weiß, so stimmt es nicht ganz genau. Die Sache mit dem Wirgefühl ist auch für Experten nicht einfach.

© SZ vom 09.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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