Wann wird aus einem Staat das nächste Griechenland? Ab wann sind die Staatsschulden so groß, dass sie das Land erdrücken? Lange haben sich Politiker, Wissenschaftler und Leitartikelschreiber an einer Zahl orientiert: Steckt der Staat mit mehr als 90 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in den Miesen, wird's gefährlich.
Dieser Schwellenwert geht auf eine einflussreiche Studie zweier bekannter Ökonomen zurück. Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart haben in "Wachstum in Zeiten der Schulden" durchgerechnet ( PDF), was passiert, wenn die Schulden steigen. Sie warnen, dass ab einer Quote von 90 Prozent das Wirtschaftswachstum einbreche. Dann drohe dem Staat eine schmerzhafte Abwärtsspirale: Das Bruttoinlandsprodukt sinke, die Schulden würden relativ immer größer.
Doch ihre 90-Prozent-Marke wird nun angegriffen. Drei Volkswirte der University of Massachusetts Amherst werfen Rogoff und Reinhart schwere Patzer vor ( PDF). Sie hätten methodisch unsauber gearbeitet - und peinlicherweise auch noch in Excel Fehler beim Zusammenrechnen gemacht. Damit steht jetzt ein wichtiges Argument der Befürworter eines strikten Sparkurses in der Kritik. Der Blog des Roosevelt Institute fasst die zweifelhaften Punkte zusammen:
- Problematische Datenselektion: Die Studie hätte viel mehr Fälle berücksichtigen können. Reinhart und Rogoff rechnen mit Statistiken der Jahre 1946 bis 2009. Es gibt in diesem Zeitraum 110 Datensätze, in denen die Schuldenquote eines Staats über 90 Prozent lag - aber Reinhart und Rogoff nutzen nur 96 davon. Zum Beispiel fließt das Wirtschaftswachstum Australiens der Jahre 1946 bis 1950 nicht in ihre Berechnung ein. Warum sie diese und andere Statistiken ignorieren, haben die Forscher in der Studie nicht offengelegt.
- Problematischer Durchschnitt: Die Ökonomen haben nicht einzelne Wachstumsraten verglichen, sondern Länderdurchschnitte über viele Jahre hinweg gebildet, wenn der Staat in einer Phase mit mehr als 90 Prozent Schulden steckte. Doch das verzerrt die Vergleiche: So fließt etwa im Falle Belgiens ein Zeitraum von 26 Jahren mit dem gleichen Gewicht in die Berechnung ein wie ein Jahr, in dem beispielsweise Neuseeland hoch verschuldet war.
- Excel-Fehler: Ökonomen arbeiten viel mit dem Microsoft-Programm Excel - es kann große Tabellen darstellen und mit vielen Zahlen rechnen. Reinhart und Rogoff haben hier offenbar gepatzt. Die Daten für Australien, Belgien, Dänemark, Kanada und Österreich haben sie ausgelassen. Es klingt nach einem Klickfehler: Ihre Formel berücksichtigt die Zeilen 30 bis 44, vergisst aber die Zeilen 45 bis 49.
Berücksichtigt man diese Kritik, sieht das Ergebnis ganz anders aus. Reinhart und Rogoff prognostizieren, dass die Wirtschaft im Schnitt leicht schrumpft, sobald die Schuldenquote über 90 Prozent steigt, um 0,1 Prozent. Ohne die problematischen Punkte ist jedoch keine Wirtschaftskrise mehr in Sicht: Die anderen Forscher zeigen, dass die Wirtschaft dann um ordentliche 2,2 Prozent wächst. Vor allem die Datenselektion und die Gewichtung verzerren das Ergebnis. Der Excel-Fehler, so peinlich er ist, verändert das Ergebnis nur um 0,3 Prozentpunkte.
Dass die einflussreiche Zahl von Reinhart und Rogoff angegriffen wird, löst ein lautes Echo aus, von der New York Times ("Die Studie, die die Austeritätsdebatte prägt, wird angefochten") über das Portal Business Insider ("Schock-Studie entdeckt Excel-Fehler in Reinhart-Rogoff-Studie") bis zur Financial Times ("Ökonomisches Argument für Sparprogramme attackiert").
Die beiden Forscher sagen, sie wollen sich die Studie der Kritiker nun genau anschauen. Sie betonen aber schon jetzt, dass auch die neue Berechnung zeigt: Steigt der Schuldenberg, sinkt das Wachstum. Doch auch das ist umstritten. Denn es könnte auch umgekehrt sein - und niedriges Wachstum Schuld haben an den steigenden Schulden ( siehe diese Studie als PDF). Die Debatte, wann sparen gut und wann es schädlich ist, ist noch nicht zu Ende.
Linktipps: Das Online-Magazin Quartz gibt Excel-Tipps, um ähnliche Peinlichkeiten zu vermeiden. Denn Rogoff und Reinhart sind nicht alleine: 88 Prozent aller Studien enthalten Excel-Fehler, sagt eine (hoffentlich richtig berechnete) Studie.