Börsengang:Siemens Energy erhält eine riskante Selbständigkeit

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Das Gasturbinenwerk in Berlin-Moabit ist einer der ältesten Standorte von Siemens. (Foto: Rainer Weisflog/imago)

Der Börsengang der Energiesparte von Siemens ist ein tiefer Einschnitt - nicht nur für den Konzern selbst.

Von Thomas Fromm, Berlin

Er hat tatsächlich einen blauen Stift genommen und sich in dieser Fabrik verewigt. Aber immerhin war es ja etwas Nettes. "Danke, daß ihr da seid", hat er an eine Wand im Gebäude 23.2 geschrieben, gleich vor einem Regal mit der Nummer H832. Und: "Wir halten zusammen." Passte natürlich sehr gut in diesen Corona-März 2020, als ganze Büros vor dem Virus ins Home-Office flüchteten, in vielen Fabriken das Leben aber weitergehen musste. So wie hier im Siemens-Schaltwerk in Berlin-Spandau. Eine große Maschine anzuhalten ist schwieriger, als einen Laptop mit nach Hause zu nehmen.

Unterschrieben hat der Wandmaler mit J. Kaeser, und deswegen hat das wohl noch niemand weggewischt. Denn wenn der Siemens-Chef schon mal persönlich ins Werk kommt und auf die Wand schreibt, dann hat das natürlich da zu bleiben.

Joes Widmung: Als Siemens-Chef Kaeser im Frühjahr im Berliner Werk vorbeischaute, schrieb er seine Botschaft einfach an die Wand. (Foto: thf)

"Kaeser ist einer der wenigen, denen ich hier Graffiti erlaube", sagt Stephan Jorra. Er ist der Leiter dieses Werkes, das vor 103 Jahren eröffnet wurde, er trägt grauen Anzug, weißes Hemd, dazu robuste Schuhe und Mund-Nasen-Schutz. Wenn er durch sein 350 000 Quadratmeter großes Reich läuft, grüßen ihn die Kollegen freundlich. Einer wie Jorra ist stolz auf sein Werk: Gasisolierte Schaltanlagen mögen nicht besonders sexy sein, an der Berliner Paulsternstraße werden schließlich keine Sportwagen zusammengeschraubt. Aber man braucht diese tonnenschweren Teile, um Strom durchzuschalten und zu transportieren. Egal, ob dieser Strom mit Kohle gemacht wird, Wind oder Sonnenstrahlen. Ob fossil oder erneuerbar, irgendwie muss Strom ja von A nach B kommen. Und genau dafür sind sie hier zuständig.

Es wird geschätzt, dass ein Sechstel der weltweiten Energieproduktion über Siemens läuft, eigentlich ist dieses Geschäft also eine sichere Bank. Und trotzdem hat der Berliner Werksleiter Jorra gerade keine leichte Zeit. Es sei im Moment so "vieles im Umbruch", sagt er, und dass er noch nie so viel Veränderung in so kurzer Zeit erlebt habe. "Der Markt verändert sich, die Energieübertragung entwickelt sich gerade hin zu dezentraleren Anlagen, neue, kleinere Produkte werden gebraucht. Wegen der Erderwärmung müssen wir auf klimafreundlichere Schaltanlagen umstellen, dazu kommt jetzt der Börsengang." Dass sich da draußen alles verändert, dass alles umweltfreundlicher werden muss - da könnte man nun sagen, dass das alles noch ein paar Monate Zeit hat, mindestens. Aber der Börsengang ist ja schon bald, nämlich an diesem Montag. Und dann?

Es ist eine der größten Veränderungen des Konzerns

Siemens Energy, so der Name der ausgelagerten Energiesparte, zu der auch das Werk in Berlin gehört, wird an diesem Montag sein Debüt in Frankfurt geben, es ist eine der größten Veränderungen, die der Konzern jemals erlebt hat. Ein Geschäft mit rund 92 000 Mitarbeitern und fast 30 Milliarden Euro Umsatz wird selbständig, ein Drittel des gesamten Konzerns, geschätzter Börsenwert: 20 Milliarden Euro. Es ist ein dicker Brocken, der da rausgeht, und es ist sehr gut möglich, dass der Hersteller von Kohle- und Gaskraftwerken und von Windrädern im nächsten Jahr sogar in den Leitindex Dax aufsteigt. Dann gäbe es zweimal Siemens im Dax. Mindestens, denn vielleicht kommt irgendwann auch noch das abgespaltene Siemens-Medizintechnik-Geschäft Healthineers mit dazu. Dann wären sie am Ende zu dritt und der Dax wäre, man kann es nicht anders sagen: eine ziemliche Siemens-Veranstaltung.

All diese Abspaltungen folgen einer strengen Logik - der des Kapitalmarktes. Kaeser verspricht sich bessere Renditen und Börsenbewertungen für alle, vor allem aber für das Rest-Geschäft von Siemens. Denn wenn der Mischkonzern in seine Einzelteile zerlegt wird, dann wissen die Menschen an der Börse besser, woran sie sind - so die Theorie der Finanzstrategen. Denn tatsächlich haben Kraftwerke, Schaltanlagen, Computertomografen und Züge nicht sehr viel miteinander gemein. Für Börsianer wird die ganze Sache also übersichtlicher. Für viele Menschen aber könnte es ungemütlicher werden, denn mehr Eigenständigkeit und Unabhängigkeit bedeuten auch: mehr Risiko. Man müsse sich "immer alle Standorte anschauen und prüfen, ob das, was jeweils gemacht wird, noch passt", sagte Siemens-Energy-Chef Christian Bruch im Sommer der SZ. Er sei "ein Freund ehrlicher Worte" und könne "einen Abbau von Arbeitsplätzen derzeit nicht ausschließen".

Ein Kanzler auf Schaltwerk-Visite: Als Konrad Adenauer 1952 bei Siemens in Spandau vorbeischaute, war bei dem Konzern noch alles unter einem Dach - auch die Energiesparte. (Foto: Siemens AG/oh)

Wenn die einen etwas nicht ausschließen können, dann kann es sein, dass die anderen mit etwas rechnen müssen. In Spandau sind schon 400 Stellen gestrichen worden, jetzt sind es noch 2000 Leute, die hier am Standort arbeiten. Die Menschen sagen "Mahlzeit", wenn sie sich um 13 Uhr auf dem Gang begegnen. Und um 14.45 Uhr im Innenhof immer noch: Mahlzeit. Neues, hippes Berliner Start-up? Von wegen. Dies hier ist der Klassiker, alte deutsche Industriewelt. Es ist ja vor allem der alte Siemens-Konzern, der in Berlin immer noch für solche Industriejobs sorgt. Auch deshalb will die Konzernleitung von Siemens Energy ihr Hauptquartier nun in Berlin aufschlagen - nah dran an der Politik. In München bleibt der juristische Firmensitz - damit bleiben auch die Steuern.

Wenn an diesem Montag um 8.40 Uhr Siemens-Energy-Chef Bruch sein Unternehmen ins Signing Book der Deutschen Börse einträgt, wenn dann von 8.45 Uhr an die Reden gehalten werden und um neun Uhr das Börsenglöckchen läutet, dann wird Petra Brehe nicht dabei sein. Die 54-Jährige ist bei Siemens ja auch nicht für Börsengänge und Abspaltungen zuständig, sondern für die Inbetriebsetzung gasisolierter Schaltanlagen. Sie prüft diese Maschinen, bevor sie an die Kunden gehen. Ihr Arbeitsplatz ist die Fabrikhalle, und ihr Gebiet, das sind die elektrischen Wandler, Verriegelungen, Signale. Die Frau mit den kurzen Haaren, der roten Hose und dem blauen T-Shirt wohnt weit außerhalb von Berlin, und an normalen Tagen fährt sie gegen 4.30 Uhr los. Schichtbeginn ist um sechs. "Eigentlich wollte ich ja gar nicht jeden Tag die 80 Kilometer nach Berlin reinfahren", sagt sie. Das kam so: Sie hatte Elektrikerin gelernt, damals in der DDR. Dann kam die Wende, und sie ging zu einem mittelständischen Zulieferer, der es nicht mehr lange machte. 2007 dann suchte eine Leiharbeitsfirma jemanden für Siemens. Schaltschrankverdrahtung. "Da sagte ich mir: Das kann ich." Und fahren müsse man eh, wenn man da draußen auf dem Land wohnt. Und so fährt sie also 160 Kilometer, jeden Tag.

"So etwas gibt man nicht gerne auf."

Als dann die Ausgliederung von Energy bekannt wurde, hatten die Kollegen gerade eben das 25 000ste Schaltfeld gefeiert, das aus der Fabrik geliefert wurde. "Kurze Zeit später hieß es dann: Ihr müsst alle raus aus Siemens", erinnert sich Brehe. "Da hatte man dann erst mal geguckt, wo man sich noch intern bewerben konnte - man wollte ja gerne bei Siemens bleiben." Dass irgendwann ein ganzes Unternehmen abgespaltet wird, das hatte man so natürlich nicht auf dem Schirm, wie auch. Jahrelang Leiharbeiterin, jahrelang befristete Verträge, und als dann endlich der feste Arbeitsvertrag kam, da ging man abends mit der Familie essen. Das Ziel war ja immer der feste und unbefristete Job bei Siemens. "So etwas gibt man nicht gerne auf", sagt sie.

Im Hintergrund läuft die Abspaltung eher kühl und technisch ab: Am Freitag wurde die Trennung von der Mutter durch einen Eintrag ins Handelsregister vollzogen. Siemens-Aktionäre bekommen in diesen Tagen automatisch für je zwei ihrer Papiere der Siemens AG eine neue Siemens-Energy-Aktie zusätzlich ins Depot gebucht, 700 Millionen sind es insgesamt. In den ersten Wochen könnte es dann zu großen Kursschwankungen kommen, weil viele Investoren, zu denen das Energieunternehmen nicht passt, die Aktie gleich wieder abstoßen werden. Während an der Börse also ein großes Rad gedreht wird, wird sich an der Arbeit von Petra Brehe erst einmal nichts verändern. Die Elektrikerin ist an ihrem Platz geblieben, prüft weiter ihre Schaltanlagen, und sie wartet ab, was nun passiert. "Drei-Schicht-Betrieb, Überstunden abbummeln, wenn es sein muss - wir waren immer schon sehr flexibel, daher glaube ich schon, dass wir das auch weiterhin schaffen werden."

Auch Mario Runge will es schaffen. Er muss es auch schaffen, er hat drei Kinder und ist 34. Auch er ist keiner von denen, die quer von oben eingestiegen sind. Leiharbeiter, erste Verträge, Festanstellung. Erst Teamleiter in der Gießharzfertigung, heute Machbarkeitsstudien in einer kleinen Innovationsabteilung, in der man an Dingen arbeitet wie einer automatischen Drehmaschinenbestückung. Bei der alten Konzernmutter Siemens bleiben? "Für mich stand das nie zur Debatte", sagt er. "Ich gehöre hierher, an diesen Standort. Und wir haben jetzt die Möglichkeit, alleine etwas zu schaffen. Jetzt, wo wir stärker im Fokus stehen als früher."

300 Millionen Euro sollen eingespart werden - zusätzlich

Wenn ein börsennotiertes Unternehmen im Fokus der Analysten und Investoren steht, dann ist es grundsätzlich immer besser, wenn der Laden gut läuft. Das gilt umso mehr für ein Unternehmen, das noch immer viel Geld mit Kohlekraftwerken und fossiler Energie verdient und in der ersten Hälfte des laufenden Geschäftsjahres in den roten Zahlen steckte. 300 Millionen Euro sollen eingespart werden - zusätzlich zu den bereits geplanten Einsparungen von einer Milliarde Euro bis zum Geschäftsjahr 2023. Schon vor dem Börsengang meldeten Investoren ihre Forderungen an: Der Chef soll endlich liefern, für Gewinne sorgen und das Unternehmen in den nächsten Jahren umbauen. Dezentrale Stromübertragungsnetze, erneuerbare Energien, mehr Wasserstoff. Es wird sich vieles verändern in diesem Unternehmen.

Und Siemens-Chef Joe Kaeser? Der soll an die Spitze des Aufsichtsrates von Siemens Energy wechseln. Der Mann also, der im März mit einem Stift "Wir halten zusammen" an eine Berliner Fabrikwand geschrieben hat. Vielleicht noch ein Grund mehr, das erst mal da stehen zu lassen.

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