Dieser sehr deutsche Hang zur absoluten Gerechtigkeit im Einzelfall hat zwei fatale Konsequenzen. Erstens: Je komplexer das Leistungsrecht, desto eher vermuten Hartz-IV-Empfänger Willkür bei den Behörden, weil sie nicht wissen, was ihnen zusteht. Dies trägt mit dazu bei, dass das Hartz-IV-Recht zu einer juristischen Dauerbaustelle geworden ist. 640 000 Widersprüche und 115 000 Klagen gab es allein im Jahr 2016 bei 25 Millionen Bescheiden. Zweitens: Enorme Personalressourcen werden für das Ausrechnen von Leistungen vergeudet. Infolgedessen können sich weniger Mitarbeiter um die Hartz-IV-Empfänger und Arbeitslosen kümmern. Dabei wäre das gerade nötig, damit das politisch gewünschte "Fördern" besser klappt.
Arbeitsmarktforscher wissen schon lange: Je individueller und persönlicher die Betreuung, desto besser die Chancen für Arbeitslose, einen (Wieder-)Einstieg in den Arbeitsmarkt zu finden. Davon sind jedoch viele Jobcenter weit entfernt. Der Richtwert für den Personalschlüssel - auf 150 Hartz-IV-Empfänger, die älter als 25 Jahre sind, soll eine Vermittlungskraft kommen - steht oft nur auf dem Papier. Oft wechselt sogar noch das Personal.
Auch sind die Jobcenter seit Jahren chronisch unterfinanziert. Jedes Jahr werden etliche Millionen, die eigentlich fürs Qualifizieren von Arbeitslosen vorgesehen sind, dafür verwendet, um Personal- und Mietkosten zu decken. Außerdem hat die Bundesagentur für Arbeit in ihrer internen Arbeitsbewertung viel zu lange schnelle Ergebnisse gefordert, statt auf langfristige Erfolge abzustellen, etwa bei der Weiterbildung. Zu viel Geld fließt in kurzfristige Maßnahmen mit dem Nebeneffekt, dass mehr Menschen in der Zeit der Schulung nicht als arbeitslos gemeldet sind und die Statistik schöner aussieht.
Die meisten wollen arbeiten, bekommen aber nichts
Erschwerend hinzu kommt, dass das Hartz-IV-System voller falscher Anreize steckt. Arbeitslose, die sich nachträglich ausbilden lassen, sind finanziell oft schlechter gestellt als mit Hartz IV. Alleinerziehende erhalten eine Zulage von bis zu 245 Euro pro Monat - aber unabhängig davon, ob sie sich ausbilden oder qualifizieren lassen. Ideal ist es, Hartz IV mit einem Minijob und Schwarzarbeit zu kombinieren. Ein schlecht bezahlter Teilzeitjob lohnt sich hingegen kaum, weil die Abzüge zu groß sind. Und ein Alleinverdiener im Niedriglohnsektor mit mehr als einem Kind hat, wenn überhaupt, nur wenige Hundert Euro mehr in der Tasche als die vergleichbare Hartz-IV-Familie. Es fehlt also an Anreizen, unbedingt eine Arbeit aufzunehmen.
Gleichzeitig fehlt es aber auch an Arbeitsplätzen und an Arbeitgebern, die bereit sind, es mit Hartz-IV-Empfängern und Langzeitarbeitslosen zu versuchen. Vor Einführung der Reform sagte der damalige Kanzler Schröder: "Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft". Im Prinzip hat er damit recht. Aber wer glaubt, es seien nur die Sozialleistungen, die Arbeitslose in der Tatenlosigkeit verharren ließen und man müsse sie daher nur unter Druck setzen, macht es sich zu einfach. Gewiss hat schon die Angst vor dem Absturz in Hartz IV die Bereitschaft erhöht, sich schnell eine Arbeit zu suchen. Das Problem ist aber nicht die Arbeitsmoral. Die allermeisten Hartz-IV-Empfänger wollen arbeiten, dem Staat nicht auf der Tasche liegen. Doch sie bekommen nichts.