Nachruf:Rationale Erwartungen

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Ökonom Robert E. Lucas (Foto: University of Chicago)

Der Ökonom, der erklärte, wieso die Inflation so schwierig zu kontrollieren ist - zum Tod des Nobelpreisträgers Robert E. Lucas.

Von Nikolaus Piper

Was Inflation bedeutet, haben die Menschen in den Industrieländern während der vergangenen drei Jahre wieder neu gelernt. Zum Beispiel in Deutschland. Hier verhandelt das Management der Deutschen Bahn mit der Eisenbahnergewerkschaft von Mittwoch an darüber, ob in Zeiten der Inflation ein Lohnabschluss ohne weitere Streiks möglich ist. Die Gewerkschaft EVG will erreichen, "dass unsere Kolleginnen und Kollegen in diesem Jahr nicht weniger verdienen als im vergangenen". Die Aussage klingt, wenn sie von Vertretern der Arbeitnehmer kommt, wenig überraschend. Tatsächlich jedoch steckt hinter dem Satz ein schwieriges Problem. Woher weiß die EVG, wie sich die Lebenshaltungskosten in diesem und im nächsten Jahr entwickeln? Stillschweigend schreiben alle die Zahl aus dem vergangenen und den ersten Monaten des laufenden Jahres fort, also etwa sieben Prozent. Ob diese Erwartung stimmt, weiß niemand. Würde es der Europäischen Zentralbank (EZB) gelingen, die Inflationsrate auf zwei Prozent zu drücken, was ihr langfristiges Ziel ist, bekämen die Mitarbeiter ein exorbitantes Reallohnplus, läge die Inflation bei zehn Prozent, würden die realen Einkommen weiter sinken.

Beide Zahlen sind unrealistisch, aber sie machen ein Grundsatzproblem deutlich. Es könnte nämlich auch sein, dass die Inflationsrate gerade deshalb hoch bleibt, weil die Gewerkschaften das erwarten. Und nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die EZB und die Bundesregierung. Die erwartete Inflation könnte so zur tatsächlichen Inflation werden.

Es geht um Erwartungen. Deren Rolle in der Wirtschaft hat der Ökonom Robert E. Lucas von der Universität Chicago bereits in den 1970er-Jahren erforscht. In einem knappen Aufsatz aus dem Jahr 1976 stellte er die bis dahin übliche Lehre in Frage, nach der Politiker wählen könnten, ob sie mehr Inflation oder mehr Arbeitslosigkeit haben wollten. Noch heute wird der frühere deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt mit dem Satz zitiert: "Lieber fünf Prozent Inflation als fünf Prozent Arbeitslosigkeit." Robert Lucas zeigte nun, dass es diese Wahlmöglichkeit nicht gibt. Würde die Notenbank mehr Geld drucken, um die Arbeitslosigkeit zu senken, dann stellten sich alle in der Wirtschaft genau darauf ein. Die Arbeitslosigkeit bliebe dort, wo sie war, nur bei einem höheren Preisniveau.

Für diese Forschungen erhielt Robert E. Lucas 1995 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften. Sein Aufsatz von 1976, der als "Lucas-Kritik" in die Geschichte ökonomischer Ideen einging, gilt zu Recht als Fundamentalkritik an der Konjunkturpolitik im Gefolge des großen John Maynard Keynes. Keynesianische Modelle taugten nicht für Prognosen und für praktische Politik, da sie von Erwartungen abhingen, die durch genau diese Politik geprägt wurden. Die 1980er-Jahre, in denen die meisten westlichen Staaten auf Konjunkturprogramme verzichteten und langsam Geldwertstabilität einkehrte, bestätigten Lucas.

Doch dann kamen die Finanzkrise der Jahre 2008 und 2009 und der dramatische Anstieg der Inflation während und nach der Pandemie, von der viele Ökonomen, darunter auch Lucas, völlig überrascht wurden. Dessen Ruf schadete das nicht. Allerdings wurde auch Keynes darüber wieder modern.

Robert E. Lucas wurde 1937 in Yakima im US-Bundesstaat Washington geboren. Als junger Mann war er besonders politisch interessiert und links. Er machte seinen ersten Abschluss in Geschichte an der Universität Chicago, wechselte für ein Jahr an die Universität Berkeley in Kalifornien und kehrte dann zurück nach Chicago. Dort schrieb er sich für Wirtschaftswissenschaften ein, und zwar aus "quasi-marxistischen Gründen", wie er später sagte. Er wollte Ökonomie verstehen, weil er glaubte, dass die Wirtschaft die Geschichte antreibt, und mit diesem Wissen ausgestattet Historiker werden.

Tatsächlich blieb er sowohl bei der Ökonomie als auch, mit kurzer Unterbrechung, an der mittlerweile vom Monetaristen Milton Friedman geprägten Universität Chicago. Seine zweite Frau Nancy Stokey ist ebenfalls eine angesehene Wirtschaftsprofessorin in Chicago. Am vergangenen Montag starb Robert Lucas im Alter von 85 Jahren.

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