Der Drang, einen eigenen Weg zu gehen, zeigte sich früh bei Matteo Storchi. Anstatt zu warten, bis die Eltern ihm die Firma vererben, drängten er und seine Vetter 2017 ins Unternehmen - und kauften Comer Industries, einen Getriebehersteller aus Reggio Emilia. Nun führte sein Drang ihn nach Deutschland: Soeben übernahm Comer die Walterscheid Powertrain Group (WPG). Die Firma aus Lohmar bei Köln hat 2200 Beschäftigte, deutlich mehr als das italienische Familienunternehmen. Durch den Zusammenschluss entsteht einer der weltweit größten Maschinenbaukonzerne für die Landwirtschaft mit 792 Millionen Euro Umsatz. "Wir reißen die Barrieren ein, um gemeinsam etwas Größeres aufzubauen: einen europäischen Champion für den globalen Wachstumsmarkt", sagt der 46-jährige Firmenchef Storchi. An der Mailänder Börse schoss der Aktienkurs von Comer nach oben - um 20,6 Prozent. Erfreut hießen auch die Walterscheid-Manager den Käufer in einer auf Italienisch abgefassten Grußbotschaft willkommen.
Und Unternehmer Stochi drängelt nicht alleine. Italien ist zurück. In der Wirtschaft. In Europa. Aus dem Stimmungsloch.
Fünf Monate nach dem Regierungsantritt von Mario Draghi keimt lang vermisste Zuversicht auf. Der stille Wiederaufbauer führt das von der Corona-Krise besonders hart getroffene Land in weit besserer Verfassung in die post-pandemische Ära als weithin erwartet. Die EU-Kommission hat gerade ihre Wachstumsprognose für Italien von 4,2 Prozent auf 5,0 Prozent angehoben. Die italienischen Exporte steigen kräftiger als die deutschen. Das römische Statistikamt Istat bewertet die Konjunkturaussichten Italiens als "besonders günstig". Nicht zu unterschätzen: Die Normalisierung der Populisten im römischen Parlament kommt unter Draghi zügig voran.
"Draghi hat im Ausland für eine komplett andere Wahrnehmung Italiens gesorgt."
Auch in Europa macht sich das bemerkbar. Aus dem ewigen Konjunktur-Schlusslicht der EU ist eine treibende Kraft geworden. Das Land, das 2018 von einer populistischen Regierung durch brandgefährliche Schuldenpläne, Italexit-Fantasien und den Flirt mit Autokraten in Moskau und Peking zum irrlichternden Außenseiter der Europäischen Union geworden war, nimmt unter dem früheren EZB-Chef nun in Brüssel in der ersten Reihe Platz.
"Mario Draghi hat im Ausland für eine komplett andere Wahrnehmung Italiens gesorgt", sagt Unternehmer Storchi. Der Comer-Chef hatte es in den Übernahmeverhandlungen in den vergangenen Monaten mit dem US-Fonds One Equity Partners, seit 2019 Eigentümer von Walterscheid, und dem 1919 gegründeten Unternehmen aus Nordrhein-Westfalen zu tun. Dabei spürte er sehr deutlich den Ansehensgewinn seines Landes.
Überraschend war wohl auch, was Finanzminister Daniele Franco am Montag vergangener Woche erlebte. Als der Italiener in Brüssel auf dem Treffen der Euro-Gruppe das Wort ergreifen wollte, riss es die Kollegen zu einem lang anhaltenden Applaus von den Stühlen. Es dauerte einige Zeit, bevor die sonst eher steife Versammlung nach dem Jubel über den Triumph der Azzurri im EM-Finale gegen England wieder zur Ruhe kam. Dass der Europameister-Titel eine "breite Renaissance" Italiens widerspiegele, wie die New York Times schrieb, scheint eine weitverbreitete Ansicht zu sein.
Sogar die Populisten sind gebändigt: Salvini poltert nicht mehr, die Fünf Sterne haben Lust auf Kompetenz
Unterdessen befreit Draghi Europas Krisenland erstaunlich geräuscharm von den Altlasten der populistischen Regierung aus Fünf Sternen und Lega, den Wahlsiegern des Jahres 2018. Die beiden Parteien verfügen nach wie vor über die Parlamentsmehrheit in Rom und sind im vergangenen Februar in die nationale Einheitskoalition eingetreten. Dort haben sie jedoch ihre Anti-System-Identität abgestreift. Lega-Chef Matteo Salvini bekehrte sich zu Europa. Der Rechtsextremist propagiert keinen EU-Austritt und kein Referendum gegen den Euro mehr. Er poltert auch nicht mehr, dass er sich in Moskau wohler fühle als in Brüssel.
Die zerrissene, führungslose Fünf-Sterne-Partei sagte sich los von ihrem dogmatischen Dilettantismus und entdeckte den Nutzen der Kompetenz. Sie schwor den hasserfüllten Kampagnen gegen das Establishment in Politik und Wirtschaft ab. Am Kabinettstisch verabschiedeten sich ihre vier Minister von bislang identitätsstiftenden Forderungen und votierten für eine überfällige Justizreform, deren Verabschiedung eine zentrale Bedingung für den Erhalt der 190 Milliarden Euro aus dem europäischen Wiederaufbaufonds ist.
In der Außenpolitik hat Draghi die Kontakte zu den wichtigsten internationalen Partnern in Europa und Washington persönlich an sich gezogen. Um Außenminister Luigi Di Maio, ehemals dauerpräsenter Jungstar der römischen Politik und Frontmann der Populisten, ist es still geworden. Auch seine Leidenschaft für China erlosch. Im März 2019 hatte die damalige römische Regierung einen Vertrag zur Teilnahme Italiens - als einzigem G-7-Mitglied - am chinesischen Mammutprojekt der "Neuen Seidenstraße" unterzeichnet. Die 29 bilateralen Vereinbarungen werden nun Fall für Fall geprüft. Im April verbot Draghi bereits den Verkauf eines norditalienischen Halbleiterherstellers an eine chinesische Holding. Der Land- und Baumaschinenkonzern CNH brach die Verhandlungen mit FAW Jiefang über die Veräußerung eines Tochterunternehmens ab. Nun prüft Rom gerade ein Übernahmeangebot des chinesischen Staatsunternehmens Syngenta für den Saatguthersteller Verisem.
In Kürze werden die ersten 25 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbaufonds eintreffen. Sie sollen für einen lang ersehnten Investitionsschub sorgen. "Italien hat schwere Momente durchlebt, und sie sind wahrscheinlich noch nicht überstanden", sagt Maschinenbauer Storchi. Zum Wesen der Italiener gehöre es aber, dass sie nicht so schnell verzagen. "Wir haben die Fähigkeit, uns nach einem Absturz schnell wieder aufzurappeln."