Niedrigzins:Die Welt des Geldes ist aus den Fugen

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Das Geld ist zwar billig und bringt keinen Zins - gleichzeitig verliert es aber auch kaum an Wert. (Foto: dpa)
  • Die derzeitige Situation bei den Zinsen ist ohne historisches Beispiel. Und die große Frage ist: Wie lange wird die derzeitige Situation noch anhalten?
  • Ökonomen glauben, dass die derzeitige Situation kein kurzes Phänomen ist und die Zinsen in Zukunft weiterhin extrem niedrig bleiben könnten.

Von Nikolaus Piper

Deutschlands Sparer sind zornig. Wer sein Geld auf ein normales Sparbuch - früher Inbegriff der deutschen Sparkultur - eingezahlt hat, bekommt dafür Zinsen von einem Prozent, wenn überhaupt. Banken und Sparkassen, die mit der Zinsspanne nichts mehr verdienen können, halten sich mit höheren Gebühren an den Kunden schadlos. "Die deutschen Sparer werden enteignet", behauptet Bayerns Finanzminister Markus Söder (CSU) und kündigt an, gegen Billigzinsen zu kämpfen.

Ohne allerdings zu verraten, wie er das anstellen will. Der Garantiezins für Lebensversicherungen, so befand das Bundesfinanzministerium, soll zum Jahresende von 1,25 auf magere 0,9 Prozent sinken. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) kann sich unterdessen freuen: Die Rendite von Bundesanleihen mit zehnjähriger Laufzeit lag zuletzt bei 0,18 Prozent, was bedeutet, dass sich die Bundesrepublik Deutschland praktisch für umsonst verschulden kann. Unterdessen versuchen Bausparkassen, Kunden loszuwerden, weil sie die Sparzinsen nicht mehr zahlen können oder wollen.

Die Welt des Geldes ist aus den Fugen. Kapital hat, wenn es einigermaßen sicher angelegt ist, keinen Preis mehr. Sparer bekommen es mit der Angst zu tun, weil die Europäische Zentralbank (EZB) die 500-Euro-Note abschafft, um dem organisierten Verbrechen das Geschäft zu erschweren. Könnte es sein, dass dies nur eine Ausrede ist und die Abschaffung des Bargeldes begonnen hat, damit die EZB die Menschen ungestört mit Negativzinsen triezen kann? EZB-Präsident Mario Draghi gilt vielen Deutschen ohnehin als der große Bösewicht, weil er schon Wertpapiere für bisher 917 Milliarden Euro gekauft und so die Märkte mit Geld geflutet hat. Schäuble hatte Draghi sogar schon einmal für den Aufstieg der AfD verantwortlich gemacht.

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Wer ist verantwortlich? Draghi? Die Fed?

Aber wer ist wirklich verantwortlich für die niedrigen Zinsen? Draghi? Oder seine amerikanische Kollegin Janet Yellen von der Fed? Oder deren Vorgänger Ben Bernanke? Oder sind es unbekannte ökonomische Kräfte? Die Situation ist historisch ohne Beispiel. Vor nicht allzu langer Zeit war es undenkbar, dass Anleger den Finanzminister faktisch noch dafür bezahlen, dass er ihr Geld in seine Obhut nimmt. Genau das aber passiert bei einer Rendite von 0,18 Prozent und einer erwarteten Inflation von etwa einem Prozent. Und die Ökonomen müssen zugeben, dass sie die Lage erst langsam zu verstehen beginnen.

Negative Zinsen für Sparguthaben hat es auch schon früher gegeben. Zum Beispiel in den 1970er-Jahren. Im November 1972, einem Jahr mit kräftigem Wachstum, bekam man bei einem durchschnittlichen Sparbuch 4,01 Prozent. Die Inflationsrate aber betrug 6,3 Prozent. Der Normalsparer verlor damals also im Verhältnis viel mehr als heute. Trotzdem kam niemand auf die Idee, der Deutschen Bundesbank vorzuwerfen, sie enteigne die Sparer.

Das hatte zwei Gründe. Die Zahlungsversprechen der Lebensversicherungen sind in nominalen Größen festgeschrieben, für sie sind steigende Preise kein Problem. Zweitens unterliegen die meisten Menschen bis zu einem gewissen Grade dem, was Ökonomen "Nominalillusion" nennen: Die Zinssumme, die die Bank am Ende des Jahres überweist, ist konkret. Die Inflation dagegen ist abstrakt, nicht auf einem Kontoauszug sichtbar. In den 70er-Jahren gaben viele der Bundesregierung die Schuld an der Inflation. Ein ebenso alberner wie verbreiteter Witz ging so: "Was passiert, wenn Bundeskanzler Helmut Schmidt in die Wüste geht? Antwort: Erst nichts, dann wird der Sand teurer." Doch die Bundesregierung in Bonn konnte nun wirklich nichts dafür, eher hätte man die US-Notenbank beschuldigen können. Die Fed hätte die Überhitzung der amerikanischen Konjunktur Ende der 60er-Jahre nicht finanzieren dürfen. Aber der Zusammenhang war für Stammtische zu kompliziert.

Im Übrigen reagierten die Sparer durchaus rational. Sie erwarben Einfamilienhäuser und Eigentumswohnungen - "Betongold" nannte man das damals. Hier ist die Parallele zur Gegenwart offenkundig. Die Niedrigzinsen treiben heute die Grundstückpreise in München, Hamburg, Berlin und anderen deutschen Metropolen. Ob es am deutschen Immobilienmarkt bereits eine echte Blase gibt, darüber streiten sich die Experten. Jörg Krämer, Chefvolkswirt der Commerzbank, ist vorsichtig: "Wir befinden uns am Übergang von einer Nachhol- zur Überhitzungsphase."

Noch dramatischer als bei den Sparzinsen ist die Entwicklung bei den Anleihen. Das Renditetief ist historisch einmalig. Dass Anleger den Regierungen für zehn Jahre Geld leihen und dafür weniger als 0,2 Prozent (Deutschland) oder 1,8 Prozent (USA) verlangen, oder dass sie gar eine negative Rendite von 0,1 Prozent (Japan) akzeptieren, hat es in der Geschichte noch nicht gegeben. Nach der großen Finanzkrise von 1873, in Deutschland als "Gründerkrise" bekannt, litt die Weltwirtschaft wie heute unter unzureichendem Wachstum und leichter Deflation.

Die Anleihezinsen reagierten darauf überhaupt nicht, wie aus Daten hervorgeht, die der Wirtschaftshistoriker Harold James aus Princeton gesammelt hat. Amerikanische Staatsanleihen rentierten stabil mit 4,2 Prozent. Im Deutschen Reich lagen die Renditen fast identisch bei 4,3 Prozent. Die Zinsen hatten damals offenbar nichts mit der Konjunktur zu tun. Die Deutsche Reichsbank wurde erst 1876 gegründet und betrieb auch danach keine aktive Geldpolitik, die USA hatten bis 1913 überhaupt keine Notenbank. Einzig auffallend ist in den USA die Zeit des Zweiten Weltkrieges und unmittelbar danach. Damals lag der Zins längere Zeit unter drei Prozent. Der Grund: Private Anleger hatten kaum eine Alternative zu Staatsanleihen. Privatleute durften kein Gold besitzen, die nationalen Kapitalmärkte waren abgeschottet. Wirtschaftshistoriker nennen diese Phase daher das "Zeitalter der finanziellen Repression".

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Ohne EZB-Eingriffe läge der Zins bei vielleicht zwei Prozent

Die große Frage ist: Wie lange wird die derzeitige Situation noch anhalten? Einer, der es wissen muss, ist Ben Bernanke, der nach 2008 als Präsident der Federal Reserve mit radikalen Zinssenkungen und dem Kauf von Wertpapieren die Finanzkrise bekämpfte - mit Erfolg. Als Ruheständler ist er unter die Blogger gegangen. Bereits im März 2015 stellte er fest: "Niedrige Zinsen sind keine kurzfristige Abweichung, sondern Teil eines langfristigen Trends." Im Jahr 1981, als Bernankes Vorvorgänger Paul Volcker die Inflation in den USA stoppte, stieg der Zins kurzfristig auf 15 Prozent, seither geht er in Wellen immer weiter zurück. Fed, EZB und andere Notenbanken trügen zum Trend bei, sie seien aber nicht die entscheidende Kraft. "Der Zustand der Wirtschaft, nicht die Fed, bestimmt letztlich, wie hoch die nachhaltige reale Rendite ist", schreibt Bernanke.

Eine Studie, die von der EZB veröffentlicht wurde, kommt zu ähnlichen Ergebnissen. "Die reale Verzinsung von Geldanlagen hängt in der mittleren Frist vielmehr davon ab, wie erfindungsreich eine Wirtschaft ist und wie jung die Bevölkerung des zugehörigen Landes, wie gut die Straßen und die sonstige Infrastruktur sind, wie flexibel der Arbeitsmarkt und wie wachstumsfreundlich die Politik der Regierung sind." Peter Bofinger, Wirtschaftsprofessor in Würzburg und Mitglied des Sachverständigenrates, glaubt, dass der Zins in Deutschland "als grobe Schätzung bei etwas über einem Prozent" liege würde, hätte Mario Draghi sein Programm zum Kauf von Anleihen nicht begonnen. Kein fundamentaler Unterschied zur tatsächlichen Entwicklung also.

Jörg Krämer von der Commerzbank glaubt trotzdem, dass die lockere Geldpolitik der EZB negative Folgen für die Volkswirtschaften hat. "Viele Unternehmen sagen sich heute: Das kann doch nicht gutgehen. Wenn man negative Auswirkungen fürchtet, dann hält man sich mit Investitionen zurück." Es ist die Furcht vor der Rezession, die eine neue Rezession auslösen könnte. So oder so: Es ist gut, sich darauf einzustellen, dass die Ausnahmesituation gar keine ist. Die Wirtschaft muss wohl noch auf sehr lange Zeit mit Zinsen von fast null Prozent leben.

© SZ vom 21.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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