"Das hier ist die Mutterknolle", sagt Mathias Westermeier. Auf seiner Hand ruht eine Kartoffel. Lady Amarilla, eine gute Pommes-Sorte. Westermeier reibt zärtlich ein paar Bröckchen dunkler Erde von ihrer Haut und zeigt auf einen winzigen, weißen Trieb. "Sehen Sie das? Das ist der Anfang. Sie liegt jetzt hier im Boden bis August, und wir wissen nicht, was mit ihr passiert." Welche Schädlinge sie befallen, was das Wetter mit ihr macht, ob sie richtig ankeimt. Und dann auch noch: ob er sie überhaupt je verkaufen kann.
Mathias Westermeier ist Kartoffelbauer. Seinen Hof in Kirchheim, einem Örtchen östlich von München, betreibt der 58-Jährige in vierter Generation. Wenn alles gutgeht, werden seine zwei erwachsenen Söhne einmal übernehmen. Wenn. Denn Kartoffeln anzubauen, ist seit Jahren schon immer schwerer geworden. Der Klimawandel mit Wetterextremen wie Starkregen und großer Hitze macht alles schwerer, und dann sind da die immer schärferen Qualitätsauflagen der Lebensmittelindustrie, Westermeiers Abnehmer. Der Preisdruck ist hoch, denn die Menschen wollen billige Lebensmittel. Und jetzt auch noch Corona.
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Dass die Pandemie die Wirtschaft hart getroffen hat, ist keine neue Erkenntnis, bei vielen Branchen versteht das auch jeder auf Anhieb: Geschäfte geschlossen, Flugzeuge am Boden und so weiter. Bei den Kartoffelbauern erschließt es sich nicht auf den ersten Blick, doch der Einbruch ist bei vielen von ihnen verheerend. Westermeier baut sogenannte Veredelungskartoffeln an, die zu Pommes frites, Kroketten und Ähnlichem weiterverarbeitet werden. Doch viele der Orte, an denen Menschen gerne Pommes essen, waren und sind geschlossen: Schwimmbäder, Fußballstadien, Volksfeste wie das Oktoberfest, Weihnachtsmärkte und Restaurants.
Die Nachfrage ist also eingebrochen - und zwar nachdem die Bauern im vergangenen Frühjahr die Mutterknollen in die Äcker gelegt hatten und es kein Zurück mehr gab. Die Kartoffeln keimten, die Landwirte sahen den Pflanzen beim Wachsen zu, arbeiteten hart während der Erntezeit und wussten nicht, ob und wie viele ihrer Kartoffeln sie je würden verkaufen können. Gleichzeitig waren am Anfang der Pandemie die Lager voll mit Kartoffeln aus dem Vorjahr, die nun niemand mehr wollte. Im September teilte dann das Bundeslandwirtschaftsministerium mit, dass eine Ernte von rund 11,6 Millionen Tonnen bevorstehe, 8,9 Prozent mehr als im vergangenen Jahr, weil die Bauern ihre Flächen für den Kartoffelanbau vor der Pandemie erweitert hatten. In anderen Jahren wäre das eine gute Nachricht gewesen. Aber im Lockdown-Jahr 2020 - wohin sollten die Bauern mit all den Millionen Tonnen?
Belgien appellierte an die Pommes-Patrioten
Im November wurde ein Landwirt aus der Nähe von Würzburg kurz berühmt, weil er Freunde aufforderte, sich ein paar Säcke Kartoffeln zu holen, die er sonst nicht mehr loswerde. Die Geschichte verbreitete sich in sozialen Medien, plötzlich standen Dutzende Autos vor seinem Hof. Und der belgische Verband der kartoffelverarbeitenden Industrie rief alle Pommes-Patrioten dazu auf, mehr von dem Nationalgericht zu essen, bitte zweimal statt einmal pro Woche.
Westermeier fuhr im August und September eine gute Ernte ein. Seine zwei Söhne nehmen sich in der Erntezeit drei Wochen Urlaub von ihren anderen Vollzeitjobs und helfen mit, das riesige rote Erntegerät von acht bis 20 Uhr über die Äcker zu fahren. Wenn schlechtes Wetter ansteht, auch mal von morgens sechs Uhr bis 21 Uhr. Erst vor drei Jahren haben sie die hochautomatisierte Vollerntemaschine gekauft für rund 150 000 Euro. Solche Investitionen muss man erst mal wieder reinholen, aber die Westermeiers sind stolze Kartoffelbauern und wollen die beste Technik benutzen. "Hier werden die Kartoffeln von Erdklumpen automatisch getrennt", sagt Sohn Johann Westermeier und zeigt auf ein Gumminoppenband hinten an der Maschine. "Und da vorn fallen sie hinab, aber nur wenige Zentimeter. Man muss behutsam mit ihnen umgehen." Zu dieser Jahreszeit parkt der Vollernter in der Scheune. Im Herbst lagern an der Seite der großen Halle dann Hunderte Tonnen Kartoffeln. Der Raum ist vollisoliert, weil die Abnehmer genaue Temperaturkontrolle verlangen. Wenn es zu warm ist, schrumpeln die Knollen. Und auch kälter als sieben Grad darf es die Kartoffel nicht haben, so steht es im Vertrag mit den Abnehmern, denn zu kalte Lagerung fördert bei der späteren Zubereitung die Bildung von Acrylamid, einem potenziell krebserregenden Beistoff, der vor allem entsteht, wenn Kartoffeln zu heiß gebacken, gebraten oder frittiert werden.
Westermeier hatte gute Verträge, er konnte auch im vergangenen Jahr einen Großteil seiner Kartoffeln wie vereinbart verkaufen. Doch Landwirte planen so, dass sie fast immer mehr produzieren, als sie in den Verträgen versprechen. Das müssen sie, weil sonst die Gefahr zu groß ist, dass sie wegen einer schlechten Ernte ihre Lieferpflicht nicht erfüllen können und dann Strafen drohen. Die Überproduktion verkaufen sie auf dem freien Markt - oder eben nicht, denn der freie Markt war im vergangenen Jahr so gut wie tot. Westermeier blieb auf gut einem Fünftel seiner Kartoffeln lange sitzen und bot sie immer mehr Abnehmern zu immer günstigeren Preisen an. Er fürchtete schon, dass er sie entsorgen müsste an eine Biogasanlage. Doch dann fand sich doch noch ein Käufer. Gerade mal drei Euro bekam er für 100 Kilogramm, noch nicht einmal ein Drittel des sonst üblichen Grundpreises, also des Minimalpreises bei geringster Qualität. Es war ein herber Verlust.
Die Preise haben sich noch nicht erholt
Einziger Lichtblick für die Kartoffelbauern: Die Menschen kaufen seit Pandemie und Lockdown mehr Speisekartoffeln zum Zu-Hause-Kochen und mehr Tiefkühlpommes für die Tage, an denen es schnell gehen muss. Dem Marktforscher Nielsen zufolge haben Menschen im vergangenen Jahr 490 Millionen Euro für Tiefkühl-Kartoffelprodukte in deutschen Supermärkten ausgegeben, gut zwölf Prozent mehr als im Vorjahr. Umso mehr ärgert sich Westermeier, wenn in Medien viel über Acrylamid in Pommes steht, weil dann der Eindruck entstehe, seine Kartoffel sei giftig. "Sie ist nicht giftig!", ruft Westermeier. "Die Kartoffel ist eine Königin. Gesund und regional. Wir produzieren sie hier unter freiem Himmel. Und es gibt so viele Variationen von Sachen, die man mit ihr machen kann."
Nun ist es 2021, und die Menschen essen noch immer längst nicht so viele Kartoffeln wie vor Corona, vor allem nicht so viele Pommes. Die Preise am freien Markt haben sich noch nicht erholt. Anfang 2020 lagen sie bei rund 20 Euro pro 100 Kilo, derzeit gerade einmal bei rund acht Euro. Das deckt die Kosten für Anbau und Lagerung nicht.
Westermeier musste seine Mutterknollen trotzdem schon in die Äcker legen wie jedes Jahr im Frühling, allerdings hat er deutlich weniger gepflanzt als sonst. Seine per Satellitennavigation gesteuerte Kartoffel-Legemaschine legte die Pflanzkartoffeln im Abstand von exakt 34 Zentimetern in exakt 75 Zentimeter voneinander entfernte schnurgerade Reihen. Auch in der Krise arbeitet Westermeier genau, und je genauer er arbeitet, desto besser das Produkt. Und desto wahrscheinlicher, dass er seinen Vertrag mit dem Abnehmer erfüllen kann, der aus Lady Amarilla dann Pommes macht. Dieses Jahr haben die Kartoffelverarbeiter ihre Verträge angepasst. Im Falle einer Pandemie oder anderer Katastrophen können sie jetzt einfach zurücktreten. "Wir sind jetzt völlig dem Schicksal ausgeliefert", sagt Westermeier.
Seine Söhne helfen beim Pflanzen und Ernten, Saisonkräfte brauchen die Westermeiers nicht. "Wir sind ein Familienbetrieb", sagt Johann Westermeier. "Die Kartoffel wird hier mit Herz und Liebe produziert." Er nimmt die Mutterknolle, die mit dem kleinen, weißen Trieb, wieder aus der Hand seines Vaters, legt sie vorsichtig zurück auf den Acker und bedeckt sie mit der feuchten, dunklen Erde. Vater Westermeier seufzt. "All der Aufwand, der Technikeinsatz, das Kapital und die Arbeit, die da drinstecken. Und niemand weiß, ob die Kartoffeln, die wir gelegt haben, je Abnehmer finden."