1863 ist ein gutes Jahr, um die Jugend von heute zu verstehen. Zumindest, wenn es nach Danah Boyd geht. Ein Flaneur ist ein Mensch, der in der Menschenmenge sein will, so fasste es der Schriftsteller Charles Baudelaire zusammen: "Seine Passion und sein Talent ist es, eins zu werden mit der Masse. Für den perfekten Flaneur, für den leidenschaftlichen Beobachter, ist es eine riesige, Freude sein Zelt mitten in der Menge aufzuschlagen, zwischen Ebbe und Flut der Bewegung". Das war 1863.
Die Art, wie Jugendliche soziale Netzwerke nutzen, von Myspace über Facebook und Twitter bis zu Tumblr und Snapchat, diese Nutzung sei vergleichbar mit einem Flaneur, wie man ihn damals auf öffentlichen Plätzen in Paris gesehen habe. Schreibt Danah Boyd in ihrem Buch mit dem Titel: "Es ist kompliziert".
Boyd reist seit acht Jahren quer durch die Vereinigten Staaten, redet mit Jugendlichen darüber, wie sie online unterwegs sind, und beobachtet sie dabei. Sie hat ihren Doktor in Berkeley gemacht, ist Fellow an der Universität in Harvard und arbeitet für Microsoft. Wollen US-Medien wissen, was die Jugend im Netz macht, fragen sie in aller Regel Danah Boyd.
Boyd schreibt über Jugendliche, dass auch sie in der in der Menschenmenge flanieren wollen: "Wenn die Jugendlichen in der vernetzten Öffentlichkeit ( networked publics) unterwegs sind, wollen sie mit Freunden Zeit verbringen und von Gleichaltrigen erkannt werden. Sie wollen als interessante Persönlichkeiten gelten, aber gleichzeitig ungewollte Aufmerksamkeit abwehren. Sie sind, im Endeffekt, digitale Flaneure." Aufmerksamkeit abzuwehren ist ein anderer Begriff für das Verlangen der Jugendlichen nach Privatsphäre.
Codes und Flucht
Wie dieses Flanieren in der digitalen Öffentlichkeit aussieht und von wem die ungewollte Aufmerksamkeit ausgeht - von den Eltern, das sei schon an dieser Stelle verraten -, hat Boyd auf knapp 300 Seiten aufgeschrieben. Ihre Erkenntnisse sind vor allem auf den US-amerikanischen Raum bezogen, weite Teile ihrer Analyse lassen sich jedoch auf andere Länder übertragen.
"Auf den ersten Blick wirkt es wie ein Widerspruch, sowohl in der Öffentlichkeit zu sein als auch Privatsphäre zu besitzen", schreibt Boyd. Aber genau hier kommt das Prinzip des Flaneurs zum Tragen. Denn dieser legt nicht zwangsläufig Wert auf Anonymität, aber durchaus darauf, unerkannt zu bleiben. Im Falle der Jugendlichen heißt das vor allem: Sie greifen zurück auf Codes, sie flüchten.
Da Jugendliche wissen, dass ihre Profile von Erwachsenen - seien es nun Eltern oder Lehrer - mitgelesen werden, schreiben sie Statusupdates, für die es ein Vorwissen braucht. Auf diese Weise kommentieren sie zum Beispiel Ereignisse in der Schule. Die Mitschüler können mitdiskutieren, weil sie dabei gewesen sind. Für die Eltern bleiben solche Botschaften verklausuliert.
Ähnliches gilt, wenn Lieder geteilt werden, die fröhlicher Natur sind. Wenn man weiß, dass der Teenager gerade eine Beziehung beendet hat, bekommt der Song eine neue Bedeutung. Doch das bekommen nur diejenigen mit, die das entsprechende Vorwissen haben.
Was Boyd hier beschreibt, ist zentral. Sie verwehrt sich einer Haltung gegenüber Jugendlichen, die dargestellt werden als internetsüchtige Menschen, die über kein Sozialleben verfügten. Im Gegenteil begriffen Jugendliche das Internet als zusätzlichen Raum, um bereits vergangene Ereignisse zu zelebrieren. Sie seien deshalb nicht automatisch internetsüchtig, sondern wollten einfach mit ihren Freunden kommunizieren. Würden sie daran gehindert, suchten sie nach Orten, an denen das möglich ist.
So erklärt sie sich auch das Fluchtverhalten von Teenagern; sie suchen Orte, an denen sie unter sich kommunizieren können. Orte, die öffentlich sind, aber für Außenstehende nicht oder nicht so einfach lesbar wie ein Statusupdate. Das können Blogging-Plattformen wie Tumblr sein, auf denen eine Kommunikation über Pseudonyme möglich ist. Portale wie Ask.fm, die Eltern oft nicht kennen, oder gleich geschlossene Netzwerke wie Snapchat.
Boyd will die Jugendlichen porträtieren, nicht beurteilen. Eltern sollen einen umfassenden Blick in den Netzalltag ihrer Kinder bekommen. Warum das nötig sei, beschreibt sie im Vorwort: Boyd schildert eine Szene, in der sie sich zusammen mit Teenagern Videos anschaut, auch solche, die von ihnen gemacht wurden, und mit ihnen darüber redet. Sie versteht sich gut mit den Jugendlichen, und kaum haben die das begriffen, fragt einer von ihnen: "Kannst Du mir einen Gefallen tun? Kannst du mit meiner Mutter sprechen und ihr sagen, dass ich nichts schlimmes mache im Internet?"
In vielen Gesprächen sind Boyd zufolge vergleichbare Situationen aufgetreten. Jugendliche, die von ihren Eltern kontrolliert werden, sei es durch Verbote, wie das Haus nicht verlassen zu dürfen, oder über das Mitlesen von Statusupdates auf sozialen Netzwerken. Boyd berichtet von Eltern, die überfordert sind davon, wie soziale Netzwerke funktionieren - und die, aus durchaus berechtigten Ängsten heraus, Entscheidungen getroffen haben, durch die ihre Kinder gehindert werden, in der Öffentlichkeit sichtbar zu sein, also am Flanieren. Denn das seien soziale Netzwerke: vernetzte Öffentlichkeiten.
Acht Jahre Forschung führen dazu, dass Boyd auf ein immenses Repertoire an Beispielen zurückgreifen kann, auf das sie Kapitel für Kapitel zurückgreift. Auch dann, wenn es um heikle Bereiche wie Mobbing geht. Sie weist daraufhin, dass es durch soziale Netzwerke einfach geworden sei, Menschen in die Depression zu treiben. Jedoch seien soziale Netzwerke nicht der Grund für Mobbing, sondern ein Ort, an dem das Mobbing weitergeführt werde - in einer mitunter viel sichtbareren Weise.
Doch genau darin liegt für Boyd nun auch eine Chance, wenn sie schreibt: "Wir müssen diese Sichtbarkeit, die wir durch soziale Netzwerke nun haben, benutzen, um die sozialen und kulturellen Bruchlinien zu erkennen".
It's complicated. Danah Boyd, Yale University Press. 18,10 Euro. Das Buch steht online kostenlos zur Verfügung. Über Ihre Gründe hat die Buchautorin hier gebloggt.