Japan:Warum die Freilassung von Ghosn ungewöhnlich ist

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Carlos Ghosn vor dem Büro seines Anwalts. (Foto: Kazuhiro Nogi/AFP)
  • Carlos Ghosn durfte jetzt das Untersuchungsgefängnis in Tokio verlassen.
  • Aus Japan kann er nicht ausreisen. Auch darf er Mobiltelefon und Computer nur eingeschränkt nutzen.

Von Christoph Neidhart, Tokio

Geleitet von Polizisten, im Gesicht eine Atemschutzmaske, auf dem Kopf eine hellblaue Baseballmütze, verließ der gestürzte Chef von Renault-Nissan am Mittwoch um halb fünf Uhr das Untersuchungsgefängnis Tokio, in dem er 108 Tage eingesessen hatte. Zuvor wurde für den 64-Jährigen eine Kaution von einer Milliarde Yen hinterlegt, umgerechnet sind das 7,9 Millionen Euro.

Carlos Ghosn sah sich um und steuerte auf einen wartenden schwarzen Toyota-Kleinbus mit verdunkelten Scheiben zu. Die Polizisten wiesen ihn jedoch zu einem winzigen Suzuki-Lieferwagen, in den Ghosn sich zwängte. Dann brauste der Kleinwagen Richtung Innenstadt, verfolgt von Fotografen auf Motorrädern und Fernsehhubschraubern. Das wichtigste Strafverfahren Japans seit Jahren, das zu einem "Fall Nissan" und zu einem "Fall japanische Justiz" werden dürfte, geht in die nächste Runde.

"Viele Leute nennen das Geiseljustiz"

Junichiro Hironaka, Ghosns neuer Anwalt, hat gehalten, was sein Ruf als Staranwalt versprach. Zumindest bisher. Vor einer Woche reichte Hironaka Ghosns drittes Gesuch für eine Freilassung auf Kaution ein. Die ersten beiden waren abgeschmettert worden. Das ist in Japan normal. So lange ein Verhafteter seine Unschuld beteuert, verlängert die Staatsanwaltschaft die ohne Anklage eigentlich auf drei Wochen begrenzte Haft mit allen Mitteln, zum Beispiel mit einer Neu-Verhaftung für einen modifizierten Tatbestand, wie es auch bei Ghosn geschah. Gesteht der Beschuldigte jedoch, auch wenn es ein falsches Geständnis ist, dann zeigt sie sich konziliant. "Viele Leute nennen das Geiseljustiz", so Hironaka. "Als ich ein junger Anwalt war, gab es so lange Haftzeiten nicht."

Ghosns Freilassung auf Kaution gilt deshalb als Überraschung, die Hironaka zuvor im Gespräch mit Journalisten allerdings für möglich hielt. Er gibt sich von der Unschuld Ghosns überzeugt. Der frühere Manager wurde wegen schweren Vertrauensbruchs, falscher Registrierung seiner Bezüge und Unterschlagung angeklagt. "Ich glaube, man kann japanische Richter überzeugen", so Hironaka.

Zu den Auflagen, die das Gericht Ghosn machte, gehört, dass er in Japan bleiben muss und an seiner Haustür eine Überwachungskamera angebracht wird. Er darf niemanden aus dem Nissan-Management kontaktieren, nur sehr eingeschränkt ein Mobiltelefon benutzen und einen Computer lediglich an Werktagen im Büro seines Anwalts.

Hironaka, den Ghosn erst vor zweieinhalb Wochen anheuerte, gehört zu den wenigen japanischen Strafverteidigern, die vor Gericht regelmäßig Erfolge erzielen. In Japan enden 99,8 Prozent aller Strafverfahren mit einer Verurteilung; es gibt kompetente Verteidiger, die nie einen Prozess gewinnen.

Der 73-Jährige dagegen gewann schon mehrere prominente Fälle. Mehrfach für Leute, denen ausgerechnet dann obskure Finanzdelikte vorgeworfen wurden, als sie den Mächtigen von Japans Politik, Verwaltung oder Wirtschaft gefährlich zu werden drohten. Ichiro Ozawa etwa, der einstige Königsmacher der japanischen Politik, wurde 2009 wegen finanzieller Unregelmäßigkeiten angeklagt, als er am Machtmonopol der Liberaldemokratischen Partei (LDP) des heutigen Premiers Shinzo Abe rüttelte und beste Aussichten hatte, Regierungschef zu werden. "Ich habe immer wieder Leute vertreten, die sich dem Establishment entgegenstellten", sagt Hironaka.

"Dieser Fall hat eine große historische und gesellschaftliche Bedeutung für Japan"

"Das waren oft Vorreiter von Veränderungen." Vier Monate nach der Anklage gegen Ozawa verlor die LDP die Wahlen - ohne dass Ozawa die Regierung hätte bilden können. Er musste seine Position als Spitzenkandidat wegen des Strafverfahrens abgeben. "Ich glaube, auch jetzt erleben wir einen solchen Umbruch", so Hironaka am Montag. "Dieser Fall hat eine große historische und gesellschaftliche Bedeutung für Japan." Die Zukunft dieser Gesellschaft hänge von ihm ab. "Künftig werden keine Manager aus andern Ländern mehr in Japan arbeiten wollen", zitierte er Zeitungsartikel. "Aber ich hoffe, wir können das Vertrauen von Herrn Ghosn und der internationalen Gemeinschaft möglichst bald zurückgewinnen."

Hironaka findet es "bizarr", wie Nissan "Ereignisse, die zehn Jahre zurückliegen, plötzlich ans Licht zerrte und die neue Kronzeugenregelung für sich in Anspruch nehmend die Staatsanwaltschaft einschaltete, anstatt zuerst mit Ghosn zu reden". Dabei müssen mehr Leute im Nissan-Management in diese Transaktionen involviert gewesen sein. Hironaka sagt: "Ich glaube, das hat etwas mit der Situation zwischen Renault und Nissan zu tun." Er mag nicht bestätigen, dass zuweilen ein "höherer Wille" Japans Gerichte beeinflussen könnte, verneint es aber auch nicht. "Wenn es um so etwas Wichtiges geht wie die Autoindustrie, da muss man das schon bedenken." Ghosn selber unterstellte der Nissan-Führung kürzlich, sie habe gegen ihn geputscht, um seine Fusionspläne zu kappen.

© SZ vom 07.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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