Die moderne Gesellschaft kennt nur ein Ziel: Glück. Glücklich ist, wer begehrt ist und der Konsum soll das Interesse an der eigenen Person steigern. Doch der Konsummarkt ist zugleich unerbittlich, er entscheidet über das Drinnen und Draußen in der Gesellschaft. Wer seinen Anforderungen nicht standhält, wird ausgestoßen. Mehr noch: Das Konsumdenken führe dazu, dass die Menschen sich untereinander als Produkte wahrnehmen und behandeln, sagt Zygmunt Bauman (85), Professor emeritus in Leeds und einer der weltweit bekanntesten Soziologen.
SZ: Herr Bauman, rastlos wird in unserer Gesellschaft eingekauft - weit mehr als gebraucht wird. Muss das so sein?
Zygmunt Bauman: Es ist eine Attacke aus dem Hinterhalt, die die Unternehmen führen. Das Interesse der Konsumenten wird zunächst geweckt und dann nach und nach ausgeweitet. Längst geht es nicht mehr um ein konkretes Bedürfnis, das der Verbraucher haben mag. Produkte werden beispielsweise künstlich entwertet und durch "neue und verbesserte" Varianten ersetzt. Das ursprüngliche Produkt ist dann womöglich eine Saison später nicht nur alt, sondern sogar peinlich. Wenn das funktioniert, wird das sich ständig fortsetzende Shopping zu einem Bedürfnis. So ist schon, bevor Sie ein Geschäft betreten, gesetzt, wie Sie sich entscheiden werden. Es geht um Verführung - und Sucht. Der Trick ist es, eine Sehnsucht zu wecken, die sich fortwährend nach neuen Sehnsüchten sehnt.
SZ: Nennen Sie uns ein Beispiel?
Bauman: Die Kosmetikindustrie setzt auf diese Strategie. Nehmen Sie Allergan - die Firma, die faltenängstlichen Frauen Botox schenkte. Aber sie schaffte es auch, dünne Augenwimpern zu einem behandlungsdürftigen Problem zu machen. Eleganterweise hatte Allergan auch die Lösung parat: Eine Lotion namens Latisse. Sie lässt dort Wimpern sprießen, wo bislang keine waren und die vorhandenen werden länger. Allerdings unter einer Voraussetzung: Latisse muss regelmässig genutzt werden, tagein, tagaus bis in alle Ewigkeit.
SZ: Warum?
Bauman: Ansonsten verkümmern die Wimpern wieder - und fast alles ist wie vorher. Nur nicht in Ihrem Kopf: Wenn Sie einmal gelernt haben, dass kümmerliche Wimpern vermeidbar sind, Sie aber nichts dagegen tun, dann schämen Sie sich fortan für kurze Wimpern. Sie bekommen das Gefühl, dass Sie sich vernachlässigen und so Würde und soziale Wertschätzung verlieren.
SZ: Der Konsument macht sich selbst zum Gefangenen?
Bauman: In der Tat verwandelt sich das Wahlrecht eines Einkäufers in eine Pflicht, aus der es zunehmend schwerer wird, sich zu befreien. Das Vertrackte: Ein Rückzug würde bedeuten, dass alles Geld verloren ist, das bereits in ein Produkt mitsamt seinen Updates und Zusatzapplikationen hineingesteckt wurde. Aber es geht nicht nur um das Geld: Anfangs hatten Sie vielleicht nur eine vage Vorstellung von dem, was Sie mit dem Produkt alles anstellen könnten. Doch dann wird ein Leben ohne dieses Gadget zunehmend unvorstellbar.
SZ: Es ist also ein Spiel mit der Angst des Kunden um sich selbst?
Bauman: Die Sorge um die eigene, flüchtige Identität - also um unseren wahrgenommenen Platz in der Gesellschaft - spielt eine große Rolle. Die Identität verlangt fortwährend Aufmerksamkeit, Revision und Updates - entweder, weil diese Sie vor Erosion bewahren möchten, oder weil Sie eine neue, attraktivere Identität erlangen wollen. Die sichtbaren Zeichen für Ihre Position erhalten Sie im Geschäft. Nicht ohne Grund wispert es in der Werbung: 'Das bist Du Dir schuldig'.
SZ: Wir konsumieren - und fühlen uns dann besser?
Bauman: Der Konsum ist einerseits zum Königsweg geworden, um soziale Unterschiede zu manifestieren und Selbstsicherheit zu gewinnen. Gleichzeitig ist er ein Mittel gegen ein schlechtes Gewissen. Wenn Menschen die Zeit für die Familie fehlt, weil sie für den Lebensunterhalt aufkommen müssen, suchen sie nach Kompensation. Hier offeriert der Markt materiellen Ersatz für Sorge, Freundschaft und Liebe. Die Akte des Bezahlens ersetzen die Entsagung, die die Verantwortung für die anderen mit sich bringen würde. Die Unternehmen nutzen das aus, in dem sie suggerieren: Wer sich vor Weihnachten oder zu einem Geburtstag nicht an der Jagd auf die Geschenke beteiligt, lässt jene im Stich, die er liebt. Nur die Gleichgültigen und die Mutigen ergeben sich nicht dieser Erpressung.
SZ: Wie verändert die Fixierung auf den Konsum die Gesellschaft?
Bauman: Ein gut trainierter Konsument - dazu gehören wir tendentiell alle und zwar mit zunehmend jüngeren Alter - neigt dazu, die Welt im Ganzen als einen Container für Konsumprodukte zu sehen. Das Muster der Beziehung zwischen Kunde und Produkt wird als Archetyp für jede Beziehung gesehen - auch für die zwischen Menschen. Dabei gelten zwei Annahmen. Erstens: Ein Konsumprodukt soll Zufriedenheit verschaffen. Zweitens: Es gibt keinen Grund, einem Produkt gegenüber loyal zu sein, wenn es seinen Zweck nicht mehr erfüllt und vielversprechendere Alternativen vorhanden sind. Da alle oder zumindest fast alle Mitglieder in unserer Gesellschaft von Konsumenten dieses Muster akzeptieren, ist es kein Wunder, dass wir auch selbst von den anderen gemäß diesem Muster behandelt werden.
SZ: Der Konsument wird zum Konsumierten?
Bauman: Wir wollen selbst nachgefragt werden und damit begehrenswert für andere sein. Darum müssen wir uns ständig in möglichst attraktiver Form präsentieren. Der Mensch verwandelt sich in eine Ware: Wir kaufen viele Produkte, um nachgefragt zu werden. Der Konsum ist der Mitgliedsbeitrag für die Gesellschaft und der Kampf um die Mitgliedschaft ist eine nicht enden wollende Aufgabe. Ja, er ist schon zur Bürgerpflicht erklärt worden. Wir erinnern uns: In den Nachwirkungen des Schocks der Terroranschläge auf das World Trade Center forderte George W. Bush seine Landsleute zuallererst auf: 'Amerikaner, geht einkaufen'!
SZ: Was ist mit denen, die sich diesem Zwang zum Konsum entziehen wollen?
Bauman: Der Markt ist ein unerbittlicher Richter, der Entscheidungen zwischen dem Drinnen- und Draußensein fällt und keine Berufungsverfahren zulässt. Unwillige Konsumenten oder aber schwache Anbieter ihrer selbst sind wie ausgestoßen. In der liquiden Gesellschaft der Konsumenten ersetzen Schwärme zunehmend hierarchisch geprägte Gruppen. Schwärme sind keine Teams, sondern existieren lediglich durch eine mechanische Solidarität . Die dort mitmachen, fühlen sich sicher. Rebellen gibt es nicht, nur Verirrte. Aber es sind fragile Gebilde, die jederzeit wieder zerfallen können. Konsum lässt keine Bindungen entstehen und ist darum eine einsame Angelegenheit - selbst wenn die Menschen ihn gemeinsam ausüben.
SZ: Gleichwohl scheint die Mehrheit zufrieden zu sein. Ist die Konsumgesellschaft also insgesamt ein Erfolgsmodell?
Bauman: Sie hat einen ganz wesentlichen Vorteil. Sie verspricht das sofortige Glück im Diesseits. Welche Gesellschaftform macht das schon? Der Nachteil ist: Die Konsumgesellschaft verspricht nicht nur das Glück, sondern sie fordert es regelrecht ein. Unglück ist nicht duldbar, die Unglücklichen verlieren ihren Platz in der Gesellschaft. Das Absurde ist freilich: Die größte Bedrohung für eine Gesellschaft, die das Glück zur höchsten Maxime erklärt hat, ist ein wunschlos glücklicher Kunde. Er kauft ja nichts mehr ein.