Indien:Das Seuchenjahr

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Illustration: Stefan Dimitrov (Foto: N/A)

Indiens Wirtschaft leidet sehr unter der Pandemie, und dann ist da auch noch der eskalierende Streit mit dem ewig boomenden China. Doch es gibt Hoffnung für die nahe Zukunft

Von David Pfeifer

Wer Indien bereist, erlebt normalerweise ein lautes, buntes, manchmal wild duftendes Land, in dem die Menschen sehr eng aufeinander leben. Wer im hektischen Pune ein bisschen Ruhe sucht, kann sich beispielsweise in das alte Fort Shaniwanda flüchten, eine kleine Parkanlage liegt darin versteckt. Wenn die Nacht im Fort anbricht, springt ein Wasserspiel an, eine Lichtshow im Bollywood-Stil setzt ein, Musik schallt durch den Park, und es sammeln sich wieder Frauen, Männer und Kinder auf den Sitzen einer korrodierten Stahl-Tribüne und sehen einer alten Geschichte über Prinzessinnen und Maharadschas zu. Dabei wird gegessen, geplaudert, gesungen und gelacht. Das war freilich vor Corona.

Pune ist eine dieser indischen Millionenstädte, deren Namen man in Deutschland vor allem aus Bhagwan-Zeiten kennt, in der aber viel Industrie angesiedelt ist. Volkswagen betreibt eine Fertigungsanlage in der Peripherie von Pune, direkt nebenan liegt "Bajaj Auto", einer jener wenig bekannten Industrie-Riesen des Landes. Trotz des Namens werden hier vorwiegend Motorräder hergestellt, 7500 Zweiräder täglich alleine für den Export. Auf vielen davon stehen Namen wie "Kawasaki", "Triumph", "KTM" und "Husqvarna". Die "Bahrat Forge"-Gruppe wiederum produziert Stahl für Autohersteller wie Daimler, Audi, Volvo, MAN und Rolls Royce. Etwas mehr als die Hälfte der drei Milliarden Dollar Jahresumsatz macht "Bharat Forge" mit etwa 60 Patenten im Bereich von Bauunternehmen, Öl- und Gasförderung, Zügen, Schiffen, Luftverkehr. Bahrat ist eine alte Bezeichnung für Indien und Baba Kalyani, Chef der "Bahrat Forge"-Gruppe, schwärmte noch wenige Wochen vor dem Corona-Ausbruch bei einem Besuch in seinem Büro vom wichtigsten Rohstoff seines Landes: den "vielen jungen Inderinnen und Indern, die die Weltsprache Englisch fließend sprechen, tatendurstig sind, gut ausgebildet und fleißig."

Auf jeden freien Posten kommen Tausende Bewerber

Ebenso wie beim scheinbar endlos boomenden Nachbarn China gibt es in Indien Millionen junger Menschen, die sich eine bessere Zukunft erarbeiten wollen. Auf jeden freien Posten kommen Tausende Bewerber, was junge Menschen dazu antreibt, sich sehr umfassend und gut zu qualifizieren und andauernd weiter zu bilden. Die Arbeitsethik ist etwa so, wie in Europa in den ersten Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs - wenn Menschen an eine bessere Zukunft und sozialen Aufstieg glauben, ackern sie los und fragen erst später nach Prämien oder gar Arbeitszeiten. Während man heute beispielsweise in Deutschland vor dem Problem steht, dass es immer weniger junge Menschen gibt, und diese wenigen auch lieber über ihre Perspektiven und die Work-Life-Balance diskutieren, bevor sie eine Kelle drauflegen.

Im Wettbewerb mit China hat dieses Jahr für Indien aber klar einen Rückschritt bedeutet, egal, in welcher Hinsicht. Das indische Bruttosozialprodukt brach bis zum dritten Quartal um knapp 24 Prozent ein und das Problem schlägt in alle Bereiche durch. Denn der sogenannte Mittelstand besteht in Indien aus Millionen von Kleinunternehmern, die sich dadurch ernähren, dass sie die Bedürfnisse des Alltags decken: Essen kochen, Schuhe besohlen, Motorräder reparieren. All das wurde durch den späten, aber harten Lockdown im April lahm gelegt. Das ohnehin schon etwas schwächelnde indische Wirtschaftswachstum wurde abgewürgt, die Armutszahlen schnellten nach oben. Beim neuen asiatischen Freihandelsabkommen RCEP zog sich Indien im November des vergangenen Jahres zurück.

Die jungen Inder sind nicht nur ein wichtiger Rohstoff, sondern auch ein riesiger Absatzmarkt

Gleichzeitig stehen sich die Atommächte Indien und China im Himalaya feindlich gegenüber. Bei diversen, kleineren Gefechten starben in den vergangenen Monaten etwa 80 chinesische und indische Soldaten. Die Grenzkonflikte führten unter anderem dazu, dass mehr als 200 Apps chinesischer Software-Firmen in Indien verboten wurden, generell erwägt die Regierung in Delhi, die beiden Wirtschaftsräume nach Möglichkeit zu entkoppeln, denn Indien importiert immer noch viele Waren aus China. Die jungen Inder sind nicht nur ein wichtiger Rohstoff, sondern auch ein riesiger Absatzmarkt.

Während China die Pandemie rasch wieder unter Kontrolle brachte - freilich mit aller Härte, die ein autokratisches System seinen Bürgern zumuten kann - ist sie in Indien noch im vollen Gang. Allerdings lohnt ein Blick auf die Details der traurigen Covid-19-Rankings, in denen Indien mittlerweile mit 8,4 Millionen bestätigter Infektionen auf Platz zwei nach den USA steht. Doch im Gegensatz zu den USA mit insgesamt über 230 000 Corona-Toten weist Indien nur etwas mehr als 124 000 aus - tragisch genug, und vermutlich auch nicht ganz akkurat, in der Tendenz aber auch ein Indiz dafür, wie resilient die relativ junge indische Bevölkerung ist, die insgesamt mit 1,3 Milliarden Menschen immerhin auch etwa vier Mal so viele Einwohner hat wie die USA. Das indische Wirtschaftswunder mag also abgewürgt sein, aber das heißt nicht, dass es nicht wieder in Gang kommen kann.

Bei der "Tata Consultancy Services" (TCS), einem weltweit agierenden Dienstleister in der Informationstechnik, der ebenfalls in Pune ansässig ist, wird seit März im Home-Office gearbeitet. Das riesige TCS-Gelände mit Fitnesscenter und eigenem Hotel steht leer. Aber gekündigt wurde nicht, im Gegenteil sind 10 000 neue Mitarbeiter angestellt worden, Software-Programmiererinnen und Programmierer aus dem ganzen Land, ausgewählt aus insgesamt 336000 Bewerbungen allein im Jahr 2019. Es gibt ja auch Wirtschaftszweige, die von der Pandemie profitieren. Der gesamte IT-Bereich gehört dazu, auch wenn Bangalore, das Zentrum der indischen Software-Industrie, darunter leidet, dass die vielen Fachkräfte aus dem In- und Ausland nun von zu Hause aus arbeiten, also in der Pandemie in die Städte, Provinzen und Länder zurückgereist sind, in denen ihre Eltern leben. Der Mietmarkt ist vom Home-Office quasi ausgehöhlt worden. Ganz zu schweigen von den vielen Kleinunternehmern, die diese Fachkräfte sonst mit Essen, Kleidung und neu besohlten Schuhen versorgt haben.

Ebenfalls in Pune sitzt das "Serum Institute", ein holzvertäfelter Konferenzraum mit einem gläsernen Pferd in der Mitte des massiven, etwa 20 Meter langen Holztisches kündet von einem gewissen wirtschaftlichen Erfolg der Besitzer. Der Reichtum rührt daher, dass man im "Serum Institute" günstige Impfungen in riesigen Mengen herstellt. Unten in der Fabrikhalle und den sterilen Werkräumen werden derzeit bereits Covid-19-Impfungen produziert, die noch gar keine Zulassung haben. Für den erfolgversprechenden Pfizer-Biontech-Impfstoff, der bei Minus 80 Grad transportiert werden muss, fehlen in Indien die Kühlketten. Es wird stattdessen fieberhaft an einem "warmen Vakzin" gearbeitet. Die Margen sind klein, summieren sich aber gewaltig, wenn man 1,3 Milliarden Menschen damit versorgen soll.

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