Kommentar:Ein Jahr allein zu Haus

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Millionen Menschen in Deutschland arbeiten seit dem Frühjahr 2020 von daheim. Eine Bilanz.

Von Nakissa Salavati

Die Rücken sind krumm, die Nacken verspannt, so viel kann man nach fast einem Jahr Home-Office sagen. Ein Jahr, in dem sich das Arbeiten der Schreibtischmenschen gravierend verändert hat. Das mag auf den ersten Blick fast niedlich wirken, als hätten es sich die meist akademisch Gebildeten nun eben zu Hause statt im Büro gemütlich gemacht. Schließlich müssen sie nicht raus an die Schlachtbank, Supermarktkasse, in die Fertigungshalle oder ins Krankenhaus. Schreibtischarbeit ist eine privilegierte Arbeit, das hat sich während der Pandemie deutlich gezeigt. Aber das Jahr im Home-Office hat auch offengelegt, wie tief greifend sich eine Arbeitskultur ändern kann und welche grundlegenden Probleme sich dabei ergeben. Drei Lehren aus einem Jahr, in dem Millionen Menschen in Deutschland zu Heimarbeitern wurden.

Erstens: Home-Office funktioniert - wurde aber von Wirtschaft und Politik systematisch unterschätzt. Es brauchte erst eine Pandemie, bis Chefs erkannt haben, dass Mitarbeiter auch dann produktiv sind, wenn sie nicht ständig kontrolliert werden. Innerhalb weniger Wochen stellten sich Firmen auf Videokonferenzen und kluge Software um. Vorlesungen, Besprechungen, Schulungen, das alles geht auch digital. Es gilt nicht länger das Argument, Home-Office sei einfach nicht umsetzbar, vielmehr wird das Zu-Hause-Arbeiten auch nach der Pandemie Normalität bleiben. Trotzdem unterschätzen Politiker das Konzept weiterhin. Wie sonst lässt sich erklären, dass Home-Office und Kinderbetreuung als vereinbar gelten? Unterschätzt haben auch Firmen, wie schwer es ist, aus der Ferne Teams zu führen, Stimmungen und Probleme richtig zu deuten. Das ist kein Argument gegen Home-Office, sondern dafür, sich nicht nur digital fortzubilden, sondern sich auch zum Miteinander beraten zu lassen.

Unflexible Arbeitszeiten hindern Frauen am Aufstieg

Zweitens: Der Acht-Stunden-Tag ist überkommen. Wer Kinder hat oder Eltern pflegt, wusste schon vor der Pandemie, wie hinderlich Vollzeit und Anwesenheitspflichten sind. Alle anderen werden zu Hause gemerkt haben, wie die Acht-Stunden-Taktung ihren Sinn verliert. Im Büro funktionierte die Logik des Zeitkorsetts noch, weil es Orientierung und Vergleichbarkeit bietet, weil es Arbeit eingrenzt. Im Home-Office ist die externe Kontrolle schwächer und fordert alle heraus: Die Chefs, die gewohnt waren, Anwesenheit mit Produktivität gleichzusetzen. Die Arbeitnehmer, die - so zeigen es Untersuchungen - mehr arbeiten, weil Laptop und Privatleben so nah beieinanderliegen. Aber die eben auch Arbeit freier einteilen, Kinder und Job etwas besser vereinbaren können.

Es ist verflixt: Zum Glück gelten in Deutschland für viele Arbeitnehmer Tarifverträge, Wochenarbeitsstunden und feste Arbeitszeiten. Vollzeit ist allerdings eine Erfindung, die auf die Rolle des einsamen Ernährers ausgerichtet ist, damals und heute meist Männer. Erwerbstätige Mütter - und Väter - geraten in diesem System unter Druck. Die Erfassung der Arbeitszeit bietet noch immer den besten Schutz für Arbeitnehmer, auch im Home-Office. Daher müssen Teilzeitregelungen Normalität werden. Ja, weniger zu arbeiten, können sich nicht alle leisten. Allerdings auch deswegen, weil Frauen im derzeitigen System bis auf Ausnahmen weder aufsteigen noch gleich bezahlt werden.

Drittens: Unternehmen ziehen sich aus der Verantwortung, die Politik mischt sich zu wenig ein. Es ist schon seltsam: Läden mussten im Lockdown ausnahmslos schließen, in die Büros dürfen alle weiterhin. Zwar sollen auch dort Menschen Hygieneregeln einhalten, aber es hält sich längst nicht jeder daran. Und wer kontrolliert das schon? Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) konnte immerhin vor Kurzem durchsetzen, dass Firmen ihren Mitarbeitern Home-Office als Option anbieten müssen. Allerdings: Zwischen Ausbruch der Pandemie in Deutschland und dieser Regelung sind mehr als zehn Monate vergangen.

Und während Unternehmen bereits Büroflächen verkleinern und Nebenkosten sparen, müssen Mitarbeiter zu Hause, oft in engen Stadtwohnungen, Platz für die Arbeit schaffen, für Strom und Internet zahlen. Sie werden zwar nun steuerlich dafür entlastet, aber eine wirkliche Entschädigung ist dies nicht. Es darf auch nicht sein, dass es von der Großzügigkeit des Arbeitgebers abhängt, ob man zu Hause auf einem ordentlichen Stuhl sitzt. Gewerkschaften schauen auf diese Probleme, das schon, sie haben erkannt, dass es in dieser Krise auch auf sie ankommt. Aber ihr Einfluss schwindet, wenn sie Menschen nicht treffen können: Trotz Krise, Kurzarbeit und Kündigungen gewinnen sie keine Mitglieder. Vielleicht rächt sich jetzt, dass sie lange eine Arbeitskultur vertreten haben, die viele digital sozialisierte, junge Menschen nicht nachvollziehen können. Vielleicht aber bietet sich nun die Chance, das zu ändern - und die Bedeutung von Betriebsräten und das Wissen um eigene Rechte einer neuen Generation zu vermitteln.

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