Gründen und leben:Der Turmherr

August Wilhelm Scheer hat über Digitalisierung geredet, als das für viele noch ein Fremdwort war. Für Gründer hat er einige Ratschläge.

Von Elisabeth Dostert, Saarbrücken

Er war gerade noch mal auf der Baustelle, nach dem Rechten sehen. Eigentlich sollte der zweite Tower auf dem Gelände der Universität Saarbrücken schon fertig sein. Jetzt wird es ein paar Wochen später. August-Wilhelm Scheer, 77, der Bauherr, steht in seinem Büro im neunten Stock des alten Towers und schaut hinüber auf das neue Gebäude mit der roten Fassade. "Das ist das gleiche Rot wie die Golden Gate Bridge in San Francisco. Und die ist der Eingang zum Silicon Valley." Das genau soll die Farbe signalisieren. Saarbrücken als der Anfang von etwas Großem.

Die beiden Gebäude liegen auf einer Anhöhe am Rande des Campus. Scheers Blick schweift über das Gelände, er deutet hinüber zum Institut für Wirtschaftsinformatik (IWi) im Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI). Drei Jahrzehnte, bis 2005, war Scheer Direktor des IWi. Mit 33 wurde er Professor, mit Anfang 40 Unternehmer. Vier Jahre lang, bis 2011, war er Präsident des Branchenverbandes Bitkom. Scheer redete schon über Digitalisierung und Industrie 4.0, als das für die meisten Menschen noch Fremdwörter waren. Die Bundesregierung suchte seinen Rat. Digitalisierung war und ist die Klammer für alles, was er tut. "Damit bin ich groß geworden", sagt Scheer.

Seine Geschichte verläuft nicht geradlinig. Er ist viele Umwege gelaufen, musste Rückschläge verkraften. Sein Leben enthält Lehren für Gründer, ist aber keine Blaupause. Jede Gründung ist ein Einzelfall. Scheer redet nicht von Fehlern, lieber von Lerneffekten. "Man definiert Fehler als das, was man nicht noch mal machen würde." Für jede Formel hat er Beispiele: Seit mehr als 30 Jahren sei er geschieden, aber war die Heirat ein Fehler? "Nein", sagt er. "Damals war die Heirat die richtige Entscheidung. Irgendwann war es nicht mehr richtig."

August-Wilhelm Scheer

„Mich interessieren Teams, die die Welt erobern können“, sagt August-Wilhelm Scheer.

(Foto: Oliver Dietze/dpa)

1984 gründete Scheer die IDS Scheer AG, eine IT-Firma für Software und Beratung, die Prozesse in Unternehmen mit der von ihm entwickelten Methode Aris abbildete, modellierte, analysierte und optimierte. Die Firma wuchs, beschäftigte zeitweise 3500 Mitarbeiter, Scheer brachte sie an die Börse. 1999 war das, im Hype der New Economy. 2009 übernahm die Software AG IDS Scheer für eine halbe Milliarde Euro. Scheer gehörten damals noch rund 40 Prozent an der IDS. Er hätte aufhören können. Aber Scheer gründete wieder und führt heute unter dem Dach der Scheer Holding eine Gruppe mit mehr als 1000 Beschäftigten, dazu gehört ein Beratungs- und Softwareunternehmen. Über die Holding beteiligt sich Scheer auch an Start-ups. Die Gruppe wächst. Auch deshalb der neue Turm, der an diesem Freitag eröffnet wird. Was Scheer Gründer lehrt, hat er selbst lernen müssen. Würde man seine Ratschläge in eine Formel fassen, würde sie wohl lauten: Mensch mal Power mal Technologie mal Zeit gleich Erfolg.

Start-ups, sagt Scheer, offenbarten die Schwäche der Konzerne und nutzten die Lücken, die sie lassen. Viele Konzerne seien mit einer Technologie groß geworden und hätten dann Probleme, die nächste zu erwischen. "Die Kutschenbauer haben nicht das Auto erfunden, und die erfolgreichen Hersteller von Verbrennungsmotoren nicht das Elektroauto." Scheer nennt es das Dilemma des Innovators.

Er hat seine eigene Investmentphilosophie. Wichtiger als das anfängliche Geschäftsmodell seien die Menschen. "Mich interessieren Teams, die ehrgeizig sind, die Power haben und die Welt erobern wollen", sagt Scheer. Das Wort Power verwendet er oft, als gebe es keine angemessene Übersetzung, als sei jedes deutsche Wort zu müde. Menschen wie Markus Braun, Gründer des Zahlungsdienstleisters Wirecard, und der Aachener Professor Günther Schuh, der Firmen wie Streetscooter gegründet hat, imponieren ihm. Menschen mit Power.

Was für Gründer noch wichtig sei: Ab einem gewissen Zeitpunkt delegieren zu können: Wer immer glaube, es müsse alles über den eigenen Schreibtisch gehen, knacke nie die Marke von 100 Millionen Euro, sagt Scheer. Weil viele Unternehmer nicht loslassen könnten, blieben sie bei einer handwerklichen Fertigung mit 50 oder 60 Mitarbeitern stecken. "Wir haben in Deutschland kaum IT-Firmen, die so richtig explodieren", sagt Scheer. "Wenn man SAP oder Microsoft werden will, muss man delegieren können." Über den Softwarekonzern aus Walldorf schwärmt er. Rund 20 Jahre saß Scheer im Aufsichtsrat von SAP, bis 2008. "Es war ein Glücksfall, dass sich Hasso Plattner, der Visionär mit Bauchgefühl und der eher erdverbundene Dietmar Hopp so ergänzten." Für Scheer eine Superkonstellation zur richtigen Zeit. Exponentiell wachsen könne man nur, wenn man zur richtigen Zeit an einer Technologie teilnimmt. Ohne das Internet wäre Amazon nicht entstanden, ohne die Cloud gäbe es Firmen wie Salesforce nicht.

"Wir sind nicht zu dumm, solche Dinge zu entwickeln. Wir sind nicht wurstig genug."

Aber - und das sorgt Scheer - solche Firmen entstehen in den USA. Für ihn sind die Deutschen zu ängstlich und sorgten sich zu sehr um ihre Daten. "Die Amerikaner sehen die Vorteile und packen an." Oder künstliche Intelligenz: An europäischen Universitäten seien zwar Algorithmen entwickelt worden, aber die großen Anwendungen im Geschäft mit Endverbrauchern gebe es in den USA - bei Facebook oder Google. "Bei Maschinenintelligenz haben wir vielleicht noch eine Chance", sagt Scheer. Doch in der Hoffnung klingen Zweifel mit. "Wir sind nicht zu dumm, solche Dinge zu entwickeln", sagt Scheer. "Wir sind nur nicht schnell genug und nicht aggressiv genug, wir sind nicht wurstig genug. Ein Produkt muss nicht von Anfang an perfekt sein."

Früher, erinnert Scheer, wurde über die "Bananen-Software" von Microsoft gelästert, "reift beim Kunden." So hat er es auch mit seiner Software Aris gemacht. Am Anfang verkaufe man kein Produkt, sondern eine Vision mit einem halbfertigen Produkt. "Und dann muss man Kunden finden, die an eine Vision glauben." Er hatte solche bei Daimler und SAP. Kunden, die morgens um 8 Uhr anriefen, um einen Fehler zu melden und damit fast Teil des Entwicklungsteams wurden. So funktioniert Gründung heute noch, sagt Scheer.

Ende Juli wird Scheer 78. Er denkt nicht ans Aufhören. "Ich entferne mich von der Rentengrenze. Nach 65 gibt es ja keine Grenze mehr." Er lacht. Er wird mal als Kunstsammler, mal als Mäzen beschrieben. Aber er mag sich nicht in eine Rolle drängen lassen. "Ich bin auch Großvater und Musiker." Über seine Stiftung hat er eine Million Euro an die TU München gestiftet, weil die Unternehmertum fördert. Er besitzt Kunstwerke von Robert Rauschenberg und James Rosenquist und ägyptische Skulpturen. Auch ein paar Dutzend Saxophone besitzt er, darunter welche von Adolph Sax. Neulich habe er wieder ein Instrument bei einem Pfandleiher in München gekauft. Er hatte es im Januar im Schaufenster gesehen, im März stand es immer noch dort. "Da habe ich es von seinem Schattendasein erlöst, für 300 Euro." Scheer übt fast täglich. Er sagt: "Ich werde immer noch besser."

Zum vierten Mal zeichnet der Wirtschaftsgipfel der Süddeutschen Zeitung mit dem Start-up-Wettbewerb "Gipfelstürmer" die besten Gründer aus Deutschland aus. Die Ausschreibung läuft bis zum 31. August. Eine Jury aus Mitgliedern der SZ-Wirtschaftsredaktion wählt aus allen Bewerbern die sechs Finalisten aus. Diese dürfen im November am SZ-Wirtschaftsgipfel in Berlin teilnehmen und dort ihre Firma vorstellen. Die Teilnehmer des Gipfels küren den Sieger. Einzelheiten und Bewerbungen: www.sz-wirtschaftsgipfel.de/gipfelstuermer

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