Man könnte solch eine Rundreise durch ein zerstörtes Land anfangen mit den SOS-Kinderdörfern, in denen verarmte Eltern mittlerweile ihre Kinder abgeben. Mit den Mathematikstudenten in Thessaloniki, die nachmittags, wenn der Markt schließt, in den Mülltonnen nach Gemüse wühlen. Oder damit, dass die griechische Sektion von Ärzte der Welt ihre Leute aus Uganda, Äthiopien und anderen Dritte-Welt-Ländern abgezogen hat, weil sie sie mittlerweile alle zu Hause brauchen. Aber SOS-Kinderdorf und Ärzte der Welt, das klingt so fern, nach Bolivien und Bürgerkrieg, statt nach Westeuropa und EU.
Fangen wir also lieber mitten in der Mittelschicht an, in einer Grundschule in Heliopolis, einem Stadtteil von Athen, den man bis vor kurzem als gutbürgerlich bezeichnet hätte. In dem Raum, in dem die 45-jährige Voula Tousi tagsüber eine sechste Klasse unterrichtet, ist es klamm an diesem Abend, die Wand hinter dem Lehrerpult schimmert noch feucht vom letzten Regen.
Unten im Gemeinschaftsraum ist gerade Elternbeiratssitzung, Voula Tousi hat uns nur kurz hergeführt als Antwort auf die Frage, ob sie im Unterricht die Krise spüre. "Vorhänge, die neue Tafel, das haben wir immer schon von Spenden gezahlt. Klopapier müssen die Kinder selbst mitbringen. Aber bisher gab es immerhin Schulbücher." Sie zieht kopierte Zettel aus einer Schublade: Die Klasse hat kein Englischbuch, Tousi kopiert zu jeder Stunde eine Seite aus ihrem alten Exemplar. In der Parallelklasse fehlt das Mathebuch.
Tousi neigt nicht zu Empörungsrhetorik, im Gegenteil, sie erzählt all das mit einem Achselzucken, als wolle sie sagen, ist eben so. Nur das Rundschreiben, das lässt ihr keine Ruhe. Dieser Brief der Stadtverwaltung, der an diesem Abend unten im Elternbeirat diskutiert wird: Da immer öfter Kinder wegen Mangelernährung im Unterricht ohnmächtig werden, sollen die Lehrer Listen erstellen, damit all diese Kinder in der Kantine umsonst zu essen bekommen.
Nach der Elternbeiratssitzung schauen Voula Tousi und ihr Mann Argyris noch in einem Nachbarschaftszentrum vorbei, das sie zusammen mit Freunden eröffnet haben, schließlich ist Ausgehen mittlerweile viel zu teuer. "Ano Potamon", gegen den Strom, ist einer von vielen tausend Selbsthilfevereinen, die allerorten aus dem Boden schießen, man isst und vergnügt sich gemeinsam. An diesem Abend basteln sie unter Anleitung eines pensionierten Zahnarztes Mosaike. Panos Tsafolopoulos, der gerade gebrauchte Kacheln zu kleinen Steinchen zerhackt und einen Witz nach dem anderen reißt, sagt auf die Frage, was er beruflich mache: "Seit heute nichts mehr." Tsafolopoulos hatte einen Zulieferbetrieb für Elektronikhandel. Erst musste er nach und nach seine 50 Mitarbeiter entlassen, an diesem Tag hat er zugemacht: "Ich hatte früher 500 Kunden, aber die sind alle selbst am Ende. Seit September hat keiner mehr seine Rechnung gezahlt. Noch Raki?" Auf die Frage, warum er so heiter sei, sagt er: "Die Runde hier hilft. Außerdem bin ich nur einer von 5000, die es heute erwischt hat."
Statistisch gesehen könnte das stimmen, allein im November, dem letzten Monat, für den gesicherte Zahlen vorliegen, haben 126 000 Menschen ihre Arbeit verloren. Griechenland hat elf Millionen Einwohner. Die Arbeitslosenrate stieg so in vier Wochen von 18,2 auf 20,9 Prozent.
Dimitris, ein stiller Mann, der mit seinem streng gescheitelten Haar und seiner nüchternen Art in der sonst sehr legeren Runde auffällt, konstatiert trocken, das sei "nur das Vorspiel". Er ist im Back Office der Eurobank angestellt, die seit der Fusion mit der Großbank Alpha das größte Finanzinstitut Griechenlands ist. "Jetzt erwischt es dann die Großen, die mit mehr als 500 Angestellten. Ich seh's täglich an den Zahlen, kaum ein Unternehmen kann noch seine Leute bezahlen, wir schätzen, dass von zehn Firmen höchstens vier überleben werden." Geschichten über Freunde machen die Runde, vom Projektleiter im Ministerium, der nur mehr Cornflakes und Milch isst, seit seine Gehaltsüberweisungen ausbleiben. Von dem Sportpädagogen, dem die Gemeinde schon seit 13 Monaten keinen Lohn mehr ausgezahlt hat, der aber weiter Steuern und Versicherungen bezahlen muss.
Benzin
Durchschnittspreise in Athen:
Ein U-Bahn-Ticket: 1,40 Euro
Ein Liter Normalbenzin 1,78 Euro
Eine Minute Ortsgespräch mit Prepaid-Handy, Vodafone: 0,30 Euro
Ein Liter Milch bei Lidl: 0,85 Euro
250 g Butter bei Lidl: 1,19 Euro
Essen
Die Sophokleous. Die Athener sagten das früher so wie die New Yorker "Wall Street'' sagen: Hier saß die Börse bis 2007, in der Sophokleousstraße. Die Börse ist lange schon weg, heute gibt es hier die größte Armenspeisung des Landes. Zweimal am Tag durch die Gemeinde, jetzt, am Nachmittag, durch die Kirche. 1500 Mahlzeiten werden jeden Tag um 15 Uhr verteilt. Im August vorigen Jahres stieg die Zahl der Essenssuchenden sprunghaft an. "Mit einem Mal mussten wir 40 Prozent mehr Essen ausgeben", sagt Maria Pini, eine lebhafte, stämmige Mittfünfzigerin, die die Essensvergabe leitet.
Im Hof stehen alte Menschen mit Plastiktüten neben kleinen Mädchen in Flipflops. Schmutzstarrende Penner neben frisch frisierten Rentnerinnen. Pakistaner neben Griechen. Immer mehr Griechen. "Die Vergangenheit hatten wir unter Kontrolle", sagt Maria Pini, "Die Gegenwart lähmt mich. Und die Zukunft macht mir einfach nur Angst."
Es ist kalt heute, das ist gut, so kann man den Schal hoch und die Mütze tief ins Gesicht ziehen. Sie schämen sich. Die Mütter, die das Essen holen, solange die Kinder in der Schule sind, um es zu Hause schnell in den Topf zu kippen, so als hätten sie es selbst gekocht. Der 47-jährige Niko, der vor drei Jahren noch als Verkäufer gearbeitet hat und jetzt in einem Kellerraum lebt. Ein Nachbar schenkt ihm Zigaretten, ein anderer Kleider, die Frage nach staatlicher Unterstützung irritiert ihn: "Was meinen Sie?" Es gibt kein Hartz IV in Griechenland. Es gibt Arbeitslosenhilfe, etwas mehr als 400 Euro. Genau ein Jahr lang. Danach nichts mehr.
"Früher kamen vor allem die Immigranten und ein paar arme Griechen", sagt Maria Pini. "Die Leute, die jetzt zu uns kommen, die könnten meine Nachbarn sein, meine Freunde. Die Mittelschicht ist kollabiert." Und jeden Tag stehen mehr Menschen hier im Hof. Pini sagt, das Land sitze auf einer Zeitbombe. Wie lebt man in solchen Zeiten? "Zähne zusammenbeißen", sagt sie. "Wir brauchen Leute, die Stärke zeigen, auch wenn sie sich schwach fühlen."
Bienen
Es gibt sie, sogar überraschend oft, die hellen Geschichten, die Lichtblicke, die Leute, die sagen, jetzt erst recht. Und es gibt sogar einige, die in aller Unschuld von der Krise profitieren. Michael zum Beispiel, der in einer Nebenstraße im Zentrum von Thessaloniki einen Laden für Kletterbedarf betreibt. Seinem Geschäft geht es gut wie nie. "Jeder versucht doch, vor der Krise zu fliehen, also gehen die Leute in die Berge. Auch weil man draußen in der Natur kein Geld ausgibt." Er selbst macht mittlerweile nebenher eine Ausbildung an der American Farm School, Käserei, man kann ja nie wissen.
Diese Landwirtschaftsschule, 1904 von einem amerikanischen Missionar gegründet, um Kindern aus armen Bauernfamilien zu helfen, hat Zulauf wie nie zuvor. Immer wieder hört man von Leuten, die jetzt Bienen, Schafe, Schnecken oder Seeigel züchten, Urban Gardening und Kooperativen sind groß im Kommen, viele ziehen ins Dorf ihrer Eltern oder auf die Insel zurück, auf der sie von den Großeltern zwei Hektar Brachland geerbt haben. Viele sagen, sie würden damit auch zu ihren Wurzeln zurückkehren, Griechenland sei immer ein Land der Bauern gewesen.
Ein Nebenaspekt dieses kollektiven Trends zum Selbstversorgertum: Es riecht in den Städten immer wieder nach Feuer, Ruß, verbranntem Holz: Viele Menschen haben kleine Öfen gekauft, weil sie sich Öl- oder Stromheizung nicht mehr leisten können. Die Forstvereinigung schlägt Alarm, dem Land drohe der Kahlschlag.
In der Nacht zum Montag beschließt das Parlament in Athen unter anderem eine erneute Kürzung der Renten; der Mindestlohn wird auf weniger als 590 Euro gedrückt. Derweil sitzen in den Schaltstellen der Regierungsparteien noch immer dieselben Leute, die das Land erst an den Rande des Abgrunds gebracht haben. Politiker, die sich bis heute um Reformen drücken, und, vor die Entscheidung gestellt, stets den für sie einfachen Weg von Lohnkürzungen und Steuererhöhungen wählen. Zwei lange Jahre musste das Volk warten, bis gegen die ersten der großen Steuerhinterzieher überhaupt Ermittlungsverfahren eingeleitet wurden - vor Gericht steht noch keiner. "Die, die alles verprasst und gestohlen haben, streichen uns nun noch den Rest zusammen", sagt eine Lehrerin auf der Demonstration in Athen. "Verrückt ist das. Unerträglich."
An diesem Abend gehen auch in Thessaloniki 20.000 Menschen auf die Straße, um gegen das Sparpaket zu protestieren. Am Aristoteles-Platz setzt die Polizei Tränengas gegen die Studenten ein, viele von ihnen flüchten ins Olympion-Kino, was ein Fehler ist, das beißende Gas zieht in Schwaden durchs Treppenhaus. Einige flüchten in den fünften Stock, wo sie abwechselnd an einem Hinterhoffenster nach Luft schnappen. Die Architekturstudentin Sophia erzählt, ihr Onkel habe vor ein paar Tagen versucht, sich umzubringen, weil er sein Haus an die Bank verloren habe. Ein Junge, dem die Gasmaske am Gürtel baumelt wie eine Handtasche, antwortet aufgekratzt: "Ein Haus? Wir verlieren ein ganzes Land." Alle lachen, was bei diesen verheulten Gesichtern komisch aussieht. Der Junge ruft noch: "Hey Deutscher, denk bloß nicht, wir weinen!", dann läuft er mit seiner Maske zurück auf die Straße.
Helfer
Zitate aus der vergangenen Woche: "Athen hat noch nicht genug geliefert." (Euro-Gruppen-Chef Jean-Claude Juncker)
"Wir können nicht in ein Fass ohne Boden zahlen. Deswegen müssen die Griechen endlich den Boden einziehen. Dann können wir auch etwas reintun." (Finanzminister Wolfgang Schäuble)
Griechenland ist marode und in einer Solidargemeinschaft eine untragbare Belastung." (Bosch-Chef Franz Fehrenbach)
Eine EU-Aufsicht" muss bei den Griechen nun "sicherstellen, dass sie den Gürtel enger schnallen." (Ifo-Chef Hans-Werner Sinn in der FAZ)
Spiele
Eine Bar in Thessaloniki. Während im Hintergrund das Spiel Paok Thessaloniki gegen Heraklion übertragen wird, faltet der Physiklehrer Manolis seinen Gehaltszettel auf. Vor der Krise verdiente er 1300 Euro netto, jetzt sind es noch 808. Seine Frau, die ebenfalls Physiklehrerin war, wurde entlassen. Sie haben zwei Kinder, zahlen 380 Euro Miete, 100 Euro Strom und etwas fürs Benzin, Manolis muss mit dem Auto zur Schule. Bleiben knapp 300 Euro für vier Personen. Sie heizen kaum, gehen zweimal die Woche zu seinen Eltern zum Essen, kriegen Pakete von den Schwiegereltern und leben von Nachbarschaftshilfe. Seine Antwort auf die Frage, ob er irgendeine Lösung sehe, geht in plötzlichem Geschrei unter, Paok hat das 1:0 geschossen. "Das ist die Lösung", sagt Manolis. "Brot und Spiele. - Na ja", sagt er schulterzuckend, "Brot ist aus, bleiben Spiele." Wobei nicht mal die bleiben: Die zweite und dritte Liga wurden im Januar vorübergehend geschlossen.
Sonne
Giorgos Bakouris besitzt ein Handy, einen Computer, eine Gitarre. Er spricht fließend Englisch. Mit seinem akkurat frisierten Haar, dem graumelierten Bart, der feinen Brille und seinem Sprachduktus könnte er als Unidozent durchgehen. Bakouris ist aber kein Dozent. Er ist auch nicht mehr der Radioproduzent, der er eben noch war. Giorgos Bakouris ist obdachlos.
Computertechniker war er einst, für die Universität, später fürs Außenministerium, dann Musikproduzent fürs Nationale Radio. Bakouris liebt Musik, er trat auch auf als Gitarrist, Lateinamerikanisches vor allem. "Geld war nie ein Thema", sagt er. Seine Festanstellung verlor er 2006. Nicht so schlimm, dachte er, arbeite ich halt freiberuflich. Anfang 2008 konnte er seine Wohnung nicht mehr bezahlen und zog zu Freunden. Die Aufträge wurden immer spärlicher. Auch die Freunde hatten zu kämpfen. Im Sommer 2011 stand Bakouris dann auf der Straße.
Es war ein Schock", sagt er. "Am dritten Tag dachte ich, ich drehe durch." Der schmächtige Mann musste plötzlich in Parks schlafen. "Nachts schläfst du auf diesen Bänken mit offenen Augen." Am fünften Tag dachte er an Selbstmord. Aber er hatte noch seinen Computer, bei den Freunden in der Wohnung. Er ging zurück und googelte das Wort "Selbstmord". So kam er zu "Klimaka", einer Organisation, die sich um Obdachlose kümmert und eine Suizid-Hotline betreibt. 2011 suchten dort 5000 Athener Rat, doppelt so viele wie 2010. Oft Väter, die ihren Kindern kein Brot mehr auf den Tisch stellen können. "Menschen, die ihre Rolle, ihre Identität verloren haben, die sich erniedrigt fühlen", sagt die Psychologin Eleni Bekiari.
Jeder zehnte Obdachlose hat einen Hochschulabschluss, Tendenz steigend, schließlich können längst Tausende Akademiker ihre Miete nicht mehr bezahlen.
Giorgos Bakouris teilt sich mit einem Ikonenmaler und einem Bauarbeiter ein kleines Zimmer in einem Asyl von Klimaka. Er wirkt nicht verbittert, hilft aus bei Klimaka, beaufsichtigt das Webradio der Organisation. Und wenn er Zeit hat, geht er demonstrieren, "gegen die Politiker, denen wir egal sind".
Bakouris ist 60 Jahre alt. Seine Tochter und seinen Enkel hat er lange nicht mehr gesehen. "Die haben doch selbst so viele Probleme. Ich will sie nicht belasten." Er schweigt einen Moment, dann sagt er unvermittelt. "Ich mag die Sonne. Ich bin optimistisch. Ich weiß auch nicht, warum - in so einem Land."
Griechenland zu retten, kostet seit Januar nur noch 79 Cent. Auf dem iPhone wenigstens, wo man sich die App "Save Greece" herunterladen kann. Man sammelt Geld, jagt Schweine, die Sparmaßnahmen durchsetzen, ab und zu wirft Zeus einen Blitz.
Aus der Beschreibung: ,,Sammle Geld, streich den Haushalt zusammen oder hoffe auf Hilfe der Götter. Vorsicht, es ist nicht so leicht, wie es aussieht. Budgetkürzungen machen das Volk zornig, und die Götter haben ihre eigenen Wege. Außerdem gibt es Gerüchte an den Finanzmärkten, das ist nie gut. Bitte beachte, dass die Höhe der Schulden reine Fiktion ist."
Hände
Albrecht Dürers Betende Hände. Auf 600 Quadratmetern, mitten in Athen. Bloß verkehrt herum: Die Hände beschwören hier nicht den Himmel - sie zeigen nach unten. Zur Erde, in den Abgrund. Als flehe Gott die Menschen an, meint eine Passantin. Als tauche Gott ab, sagt der Künstler selbst.
Pavlos Tsakonas war mit dem Gemälde, das seit drei Monaten die Wand des Hotels "Vienna" ziert, einer der Gewinner eines Wettbewerbs des Umweltministeriums. Tsakonas, 29, Student der Kunstakademie, sagt, er sei aufgewachsen in einem Freibeuterstaat. Für junge Leute, für Künstler war Griechenland schon seit vielen Jahren ein verlorenes Paradies. Ein Land, das die Cliquen aus Parteien, Gewerkschaften, verbandelten Unternehmern und Kirche an sich gerissen hatten, um es unter sich aufzuteilen. Deshalb brannte Athen schon einmal, im Dezember 2008. Damals fand jeder dritte Jugendliche unter 24 Jahren keine Arbeit. Heute ist es jeder zweite. Und noch immer sind dieselben alten Leute an der Macht. "Wir fallen", sagt Tsakonas. "Alles um uns herum fällt."
Tsakonas sitzt in einem Café, draußen heulen Sirenen, Athen brennt wieder. Er kommt soeben von der großen Demonstration, obwohl er Demonstrieren nutzlos findet. Das größte Problem, sagt er, seien die Griechen selbst. "Die Leute müssen sich ändern." Er will einen Anfang machen. Weg aus Athen, aus diesem sich selbst verschlingenden Moloch. Auf die Insel seiner Vorfahren möchte er ziehen, Agios Efstratios, dort die Erde bestellen und malen. "Wir müssen uns zusammenschließen, kleine Kollektive. Unsere Sachen selbst anpflanzen, unsere Produkte austauschen, und so das System aushebeln."
Deutsche
Auch wenn die Worte "Merkel" und "Hitler" schnell mal zusammengespannt werden in hitzigen Wortgefechten auf den Straßen Athens - nein, man wird nicht beschimpft als Deutscher. Manchmal hält der andere einfach nur inne. "Aah, Deutscher." Eine Pause, dann, ein wenig bitter, ein wenig ehrfürchtig: "Ihr habt noch Lohn, ihr Deutschen. Ihr habt noch Arbeit. Ihr habt noch Rechte." Die Athener Freundin, mit der wir unterwegs sind, rät dennoch zur Vorsicht. "Lass uns Englisch sprechen. Oder noch besser: gar nicht." Das ist übertrieben. Die Menschen sind freundlich. Eine Historikerin entschuldigt sich am Ende des Interviews, dass sie die Nazi-Besatzung zur Sprache gebracht hat. "Ich wollte Sie nicht verletzen." Einmal, im Bahnhof von Piräus, beim ortsüblichen Streit darüber, wer nun das Croissant bezahlen darf, rutschen wir doch ins Deutsche. Die Verkäuferin mischt sich ein. "Gute Frau", sagt sie zu unserer Freundin. "Jetzt lassen Sie verdammt noch mal wenigstens hier den Deutschen zahlen."
Uganda
Nikitas Kanakis ist Präsident der griechischen Sektion von Ärzte der Welt. Sein Geld verdient er als Zahnarzt, soweit man als Zahnarzt noch Geld verdienen kann, es kommt nur noch ein Drittel der Patienten. Kanakis war in den vergangenen 20 Jahren für die "Iatroi" in allen Krisengebieten der Welt, Kosovo, Afghanistan, Somalia. "Jedes Mal, wenn ich nach Hause kam, war das so ein schönes Gefühl. Als ich aber im Herbst zurückkehrte, fühlte es sich an, als würde ich einfach nur ins nächste Notstandsgebiet kommen. Bin ich ja auch." Nach 22 Jahren internationaler Arbeit hat die Organisation all ihre Leute aus Uganda, Äthiopien und den anderen Dritte-Welt-Ländern abgezogen. "Wir brauchen sie jetzt hier", sagt Kanakis, "Griechenland ist Katastrophengebiet."
30 Prozent der Griechen haben keine Krankenversicherung mehr. Den Krankenhäusern wurde das Budget um 40 Prozent gekürzt, in manchen Kliniken fehlen sogar Handschuhe und Spritzen. Der Apothekerverband meldet Engpässe bei der Hälfte der 500 meistverschriebenen Medikamente, die Großhändler verkaufen die Ware lieber auf dem Graumarkt in andere Länder, wo sie mehr Profit machen. Die Fachzeitschrift The Lancet warnt vor einer "griechischen Tragödie": Die Krise koste schon jetzt Menschenleben.
Die Ärzte der Welt betreiben länger schon in der Innenstadt ein Zentrum für all die Migranten, die über die Türkei nach Griechenland kommen. Mittlerweile aber haben sie in der Vorstadt Perama eine neue Klinik eröffnet - diesmal für die notleidenden Griechen selbst.
Perama ist ein Werftenort. Viele Arbeiter einst, 80 Prozent Arbeitslose heute. Als die Klinik vor drei Jahren eröffnete, behandelten die Ärzte zwei Tage die Woche. Heute haben sie die ganze Woche über auf. Die Räume sind überfüllt, die Schlange reicht bis auf die Straße. Allein Allgemeinmediziner Giorgos Papadakis wird an diesem Nachmittag 50 Patienten empfangen. Wer länger als ein Jahr arbeitslos ist, hat keine Krankenversicherung mehr. "Viele kommen mit chronischen Problemen wie Diabetes oder Asthma", sagt der Arzt, "einige Kinder haben Mangelerscheinungen." Weshalb sie jetzt auch Lebensmittel verteilen.
Die 38-jährige Maria Lourantos hat ihren dreijährigen Sohn impfen lassen. "Wo soll ich sonst hin", sagt die alleinerziehende Mutter dreier Kinder. "Im Krankenhaus müsste ich fünf Euro für die Registrierung zahlen. Woher soll ich die nehmen?"
Der Präsident Nikitas Kanakis glaubt, das alles sei erst der Anfang. "Wenn mir einer erzählen will, er sehe ein Licht am Ende des Tunnels, dann denke ich: Kann nur der Zug sein, der auf uns zudonnert."
Verschwörungstheorien aus Athen. Vor einem Jahr: "Haben Sie von den Flugzeugen gehört? Sie steigen nachts hoch und versprühen ein Mittel über Athen, das uns alle ruhigstellt." ( eine Gymnasiallehrerin für Englisch)
Vor drei Monaten: "Premier Papandreou und George Soros haben das Referendumschaos doch gemeinsam geplant, weil sie mit Spekulationen daran verdienen." ( ein Journalist)
Diese Woche: "Die Neoliberalen machen aus uns ein Labor. Wenn sie uns zu Boden gezwungen haben, dann knöpfen sie sich Portugal, Irland und Spanien vor. Und am Schluss seid ihr in Deutschland dran." ( eine Historikerin)
Goldman Sachs steckt hinter allem. Unser ehemaliger Finanzminister und der Bruder von Premier Giorgos Papandreou haben beide für Goldman Sachs gearbeitet. Papandreous Schwester spekulierte von Kanada aus auf den Bankrott des Landes. Papandreou konnte gar nicht anders, als uns in die Pleite zu steuern." ( eine Sozialarbeiterin)
Und immer wieder: "Merkel (wahlweise: die Troika, der IWF) bestraft uns, um aus Griechenland ein Exempel für den Rest Europas (das Bangladesch des Westens, einen Sweatshop für Nordeuropa) zu machen."
Spenden
Immer wieder wird ein Hohelied angestimmt auf das wiedererwachende Miteinander und Zusammenrücken. Das erstaunt in einem Land, in dem noch vor kurzem alle bitterlich klagten über fehlenden Gemeinsinn und die angebliche Unfähigkeit der Griechen zur Solidarität. Nun erzählt ein Arzt von den Freiwilligen, die an seine Türe klopfen, um mitzuarbeiten oder Medikamente vorbeizubringen. In Thessaloniki sind unzählige Selbsthilfegruppen, Kulturprojekte, Kooperativen entstanden. Bei der Armenspeisung in Athen werden von überall her Spenden abgegeben. Meist schwingt Erstaunen mit in den Geschichten: "Vor drei Jahren hat sich kein Mensch um die Obdachlosen gekümmert", sagt Ada Alamanou von der Obdachloseninitiative Klimaka. "Plötzlich helfen so viele. Trotz der Krise, trotz der Geldnot. Da hat sich wirklich etwas geändert."
Kinder
Es begann mit Anna. Anna war viereinhalb Jahre alt, als sie eines Tages im letzten Jahr im Kindergarten vergeblich auf ihre Mutter wartete. Die Erzieherin fand einen Zettel vor der Tür: "Ich werde Anna heute nicht abholen, weil ich nicht mehr für sie sorgen kann. Bitte kümmern Sie sich um sie. Es tut mir leid. Ihre Mutter."
Eltern, die ihre Kinder einfach verlassen, gibt es auch in Athen kaum. Insofern ist Anna eine Ausnahme. Dann aber auch wieder nicht: Die schockierten Griechen, die so stolz sind auf den Zusammenhalt der Familie, mussten in den letzten Monaten erfahren, dass mittlerweile viele Eltern nicht mehr in der Lage sind, für den eigenen Nachwuchs zu sorgen. Allein die SOS-Kinderdörfer hier hatten im vorigen Jahr 50 Anfragen von Eltern, die ihr Kind bei ihnen abgeben wollten. Neun der Kinder haben sie aufgenommen, vorübergehend, alle von alleinerziehenden Müttern.
Die Zahl der Familien, die von SOS im eigenen Heim unterstützt werden, hat sich mehr als verzehnfacht, auf 250. "Es schreit zum Himmel, dass wir Kinder aufnehmen sollen, weil die Eltern finanziell nicht mehr über die Runden kommen", sagt George Protopapas, der Direktor der SOS-Kinderdörfer in Griechenland. Und doch sehen sie sich gezwungen, es zu tun. "Wir hätten uns nie vorstellen können, wie schnell man vom Wohlstand in die Armut stürzt", sagt Protopapas. "Es war, als sehe man einem Ballon beim Platzen zu."
Bislang fanden Kinder ihren Weg in die Dörfer, wenn die Eltern drogensüchtig waren oder Alkoholiker. Jetzt klopft die einstige Mittelschicht an. "Diese Eltern sind verzweifelt. Sie lieben ihre Kinder und schämen sich zutiefst", sagt der Psychologe und Sozialpädagoge Pavlos Salichos, der im SOS-Kinderdorf mit den Kindern und ihren Müttern - die zwei Mal im Monat zu Besuch kommen - arbeitet. Kinderpsychologen sagen, Kinder erlebten eine solche Trennung, deren Gründe sie nicht verstehen, oft als Akt der Gewalt. "Aber wenn es zu Hause wirklich nicht mehr geht, wenn kein Essen mehr auf dem Tisch steht, und wenn die Mutter das Kind gut vorbereitet", sagt Salichos, "dann kann es für das Kind besser sein hierherzukommen."
Sie wollen nun im Kinderdorf zwei Häuser ganz den Krisenkindern widmen. Dabei spüren sie die Krise selbst. Den insgesamt 64 SOS-Kindern wurde das Taschengeld gestrichen, neue Kleider gab es lange schon nicht mehr. Die Dörfer erhalten nicht nur keine Unterstützung vom Staat - seit den Spargesetzen vom vergangenen Jahr müssen sie erstmals Steuern bezahlen. 160.000 Euro waren es 2011. "Das fehlt den Kindern", sagt Direktor Protopapas. Und das neue Sparpaket? Das Schlimmste komme noch, glaubt er. "Griechenland wird überschnappen."
Mitarbeit: Maria Moursela und Katerina Iordanoglou