Die Politik hat ein neues, großes Projekt: EU und USA sollen zu einem großen Wirtschaftsblock zusammenwachsen. Die Transatlantische Freihandelszone, bisher nur ein esoterisches Thema für Experten und Industrieverbände, ist innerhalb kurzer Zeit zu einem konkreten Vorhaben geworden. In seiner Rede zur Lage der Nation kündigte Präsident Barack Obama Verhandlungen über eine "umfassende transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft" an. Zuvor hatte schon eine europäisch-amerikanische Kommission eine ausführliche Liste von Verhandlungszielen formuliert. Die Gespräche sollen bald beginnen.
Das Projekt ist äußerst ehrgeizig. Manche Transatlantiker sprechen bereits von einer "Wirtschafts-Nato". Der Begriff ist auch nicht ganz abwegig. Die militärische Nato wurde einst zum Schutz gegen die Bedrohung durch die Sowjetunion gegründet. Die Idee zu einer neuen ökonomischen Allianz hat auch deshalb so viele Anhänger gefunden, weil die alten Industrieländer fürchten, gegenüber der aufstrebenden Wirtschaftsmacht China ins Hintertreffen zu geraten.
Test für europäischen Zusammenhalt
Dass jetzt überhaupt verhandelt wird, ist ein Erfolg für Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie verfolgt das Projekt seit Jahren, trotz des anfänglichen Desinteresses in Washington. Auch das Wirtschaftsteam Obamas hatte lange gezögert - weil seine Berater das Vorhaben für zu komplex hielten.
Tatsächlich ist die Wirtschafts-Nato ein großes Wagnis. Die Europäische Union und die Vereinigten Staaten sind bereits heute wirtschaftlich eng verflochten. Beide erwirtschaften zusammen die Hälfte des Weltsozialprodukts, die gegenseitigen Zölle sind gering, 15 Millionen Arbeitsplätze hängen vom transatlantischen Handel ab. Trotzdem könnte es 1,5 Prozent Wachstum bringen, wenn die verbliebenen Wirtschaftsschranken fallen würden.
Nur, diese Schranken abzubauen, wird Proteste unterschiedlichster Interessengruppen auslösen und entsprechend viel politisches Kapital erfordern. Auch der Zusammenhalt der Europäer wird getestet werden. In London und Berlin reagiert die politische Klasse instinktiv freihändlerisch, in Paris protektionistisch.
Das Problem sind dabei nicht die restlichen Zölle von drei Prozent des Handelsvolumens, sondern die "Handelsschranken hinter der Grenze", wie dies Experten formulieren. Dabei geht es um Industriestandards, Sicherheits- und Gesundheitsvorschriften, Umweltnormen und das Verhältnis von Staat und Unternehmen: Haben deutsche Bauunternehmen die gleichen Chancen, einen Auftrag der Stadt Chicago zu bekommen, wie die amerikanische Konkurrenz? Wird das Urheberrecht in den USA genauso geschützt wie in der EU? Dürfen amerikanische Farmer ihre Produkte ungehindert in Europa verkaufen? Jede Liberalisierung greift tief in die nationale oder europäische Souveränität ein. Das löst Angst aus.
Schon formiert sich Widerstand: Müssen wir künftig amerikanisches Hormonfleisch und amerikanische Chlorhähnchen essen? Müssen wir Genmais auf unseren Feldern aussäen und den laxen Datenschutz der USA akzeptieren? Oder, aus amerikanischer Sicht: Müssen wir den Regulierungswahn der Europäer erdulden? Hier klingen nicht nur die üblichen Vorbehalte gegen Freihandel durch, sondern auch jahrelang gepflegte Ressentiments. Was dem einen das "sozialistische" Europa, das ist dem anderen der "menschenverachtende Kapitalismus" der USA.
Zukunftsprojekt von unschätzbarem Vorteil
Wenn die Freihandelszone ein Erfolg werden soll, müssen beide Seiten fähig zum Kompromiss sein. Die Formel dafür steht bereits im Bericht der Expertenkommission: Beide Seiten sollten Vorkehrungen treffen, so heißt es da, "die unnötige Kosten und bürokratische Verzögerungen durch Regulierung vermeiden, gleichzeitig aber das Niveau an Gesundheits-, Sicherheits- und Umweltschutz sichern, das jede Seite für angemessen hält".
Auf Deutsch: Jede Seite kann ihre höheren Standards bewahren, solange sie diese begründet. Über stichhaltige Argumente wird erfahrungsgemäß lange und erbittert gefeilscht. Im besten Falle werden viele Streitfragen pragmatisch durch Deals gelöst werden, im schlimmsten scheitern die Verhandlungen daran.
Ganz unabhängig vom Ausgang sind schon die Gespräche selbst für die Europäer von unschätzbarem Vorteil. Die EU bekommt ein Zukunftsprojekt und muss sich nicht mehr nur mit den eigenen Problemen beschäftigen. Eine Freihandelszone würde den Kontinent weiter öffnen, sie könnte neues Vertrauen zwischen Amerikanern und Europäern schaffen und Standards für den Rest der Welt setzen. Es lohnt sich, die Wirtschafts-Nato mit aller Energie voranzubringen.