Folgen des Mindestlohns:Wenn Pflege zu Hause teuer wird

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Bald gilt der gesetzliche Mindestlohn. Für Familien, die zuhause Pflegekräfte brauchen, könnte das schwierig werden. (Foto: AP)
  • 150 000 bis 200 000 Pflegekräfte aus Osteuropa arbeiten Schätzungen zufolge in deutschen Privathaushalten, um alte Menschen zu versorgen.
  • Auch sie haben künftig Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro. Das kann für viele Familien zum Problem werden.

Von Thomas Öchsner, Berlin

Sabine Friedrichsen, 54, wollte den letzten großen Wunsch ihres Vaters unbedingt erfüllen. Sein Dorf in Nordfriesland, das Haus, in dem er mit seiner Frau Jahrzehnte lebte, und kein Pflegeheim, womöglich irgendwo weit weg, sollte seine letzte Heimat sein. So legte ihr Vater es in einer Patientenverfügung fest, und daran hielten sie und ihre beiden Brüder sich, auch als der Ernstfall eintrat und ihr Vater nach einem Sturz nicht mehr alleine für sich sorgen konnte. Seitdem hat ihr Vater immer eine "Perle" im Haus.

Die "Perle" ist in diesem Fall Czeslaw, ein junger Mann aus Polen, der in Deutschland hilft, alten Menschen ein Leben in Würde in ihrem vertrauten Zuhause zu ermöglichen. Für Friedrichsen ist der Pfleger inzwischen ein Familienmitglied geworden. "Was er für meinen Vater und uns tut, ist mit Geld gar nicht zu bezahlen", sagt sie.

Czeslaw ist eher eine Ausnahme. Meistens sind es Frauen, die in der Fremde helfen. Sie heißen Maria, Danuta oder Gabriela, kommen häufig aus Polen, Kroatien oder Rumänien. Sie verlassen ihr Zuhause, weil ihr Verdienst dort nicht reicht oder für die Ausbildung der Kinder mehr Geld benötigt wird, und tun das, was die allermeisten Deutschen gegen Bezahlung nur selten tun würden: 24 Stunden rund um die Uhr für jemanden da sein, einem Menschen, den sie vor ihrem ersten Einsatz noch nie gesehen haben, die Windeln wechseln, beim Baden helfen oder das Essen zubereiten. Der Münchner Pflegeexperte Claus Fussek nennt sie die "unverzichtbaren Heldinnen unserer Zeit".

Auch diese Heldinnen haben künftig einen Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn. Die Lohnuntergrenze von 8,50 Euro pro Stunde gelte auch für solche Arbeitnehmer aus dem Ausland - "und natürlich auch in Privathaushalten", sagt eine Sprecherin des Arbeitsministeriums. Und das kann vor allem für diejenigen Familien, die ihre "Perle" nicht schwarz arbeiten lassen, zum Problem werden.

Ein grauer Markt, der im Verborgenen wuchert

Wie viele osteuropäische Haushaltshilfen alte Menschen in Deutschland in ihrer Wohnung oder ihrem Eigenheim versorgen, weiß niemand. Es sind aber genug, um eine ganze Stadt zu gründen: Ihre Zahl wird auf 150 000 bis 200 000 geschätzt. Sie füllen die Lücke, die Kinder hinterlassen, die ihre Eltern nicht pflegen können. Ohne sie würde das Pflegesystem zusammenbrechen. "Weder die Heime noch die ambulanten Dienste sind in der Lage, diese Arbeit zu übernehmen. Es gibt leider keine bezahlbare Alternative", sagt Fussek.

Es ist ein grauer Markt, der im Verborgenen wuchert, weil die Zahl der Pflegebedürftigen stetig steigt. Derzeit leben in der Bundesrepublik 2,5 Millionen Menschen, die Pflege brauchen. Im Jahr 2030 dürften es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes bereits 3,4 Millionen sein. Es ist vor allem ein Markt, in dem sich die Schwarzarbeit durchgesetzt hat. Gero Gericke, Vorstandsmitglied im Bundesverband Haushaltshilfe und Seniorenbetreuung, geht davon aus, dass 80 bis 90 Prozent der osteuropäischen Helferinnen illegal beschäftigt sind. In diesen Familien ist so ziemlich alles möglich, von der Ausbeutung der Helferin bis zu ihrem Einsetzen als Alleinerbin.

Hinter dem Schwarzmarkt steckt meist keine Organisation. "Er funktioniert über Mund-zu-Mund-Propaganda", sagt ein Staatsanwalt. Auch Ärzte und Pfarrer vermitteln schon mal "Perlen" aus Osteuropa. "Es gibt einen nicht unerheblichen Anteil von Familien, die sich eine häusliche Betreuung wünschen und sich eine legale Beschäftigung nicht leisten können", sagt Gericke. Oder die Familien fühlten sich von den Regeln einer legalen Beschäftigung überfordert und wollten den bequemsten Weg gehen, und der sei nun einmal, jemanden schwarz zu beschäftigen. So oder so, die 8,50 Euro werden für sie kein Thema sein - sie halten sich ja ohnehin nicht an die Gesetze.

Ganz anders sieht es bei Sabine Friedrichsen aus. Die Beamtin wollte von Anfang an, dass bei der Betreuung ihres Vaters alles mit rechten Dingen zugeht und die Pfleger kranken- und rentenversichert sind. Also hat sie eine Agentur eingeschaltet - mit dem Namen "Hausengel".

Die allermeisten dieser Dienstleister stellen die Betreuungskräfte ein, entsenden sie nach Deutschland und zahlen für sie Sozialabgaben nach den Standards des Heimatlands. Einige wenige vermitteln auch Helferinnen, die als Selbständige arbeiten. "Auch in diesen beiden Modellen kann es Ausbeutung geben", sagt Benedikt Zacher, vom Verband für häusliche Betreuung und Pflege. "Sie hat aber abgenommen, weil sich die Pflegerinnen in Internetforen austauschen und wissen, was sie wert sind und verlangen können."

Je nach Bezahlmodell kann eine Altenbetreuerin aus Osteuropa etwa 1100 bis 1400 Euro netto verdienen, plus Kost und Logis, die die Familie bietet. Die Agenturen selbst erhalten für ihre Dienstleistung in der Regel mehrere Hundert Euro im Monat. Die Familie Friedrichsen kommt so auf Kosten von 2000 Euro im Monat. "Das ist viel Geld", sagt Sabine Friedrichsen, aber sie findet das im Prinzip in Ordnung. "Wir bekommen stets Helfer, die gut Deutsch sprechen können, und wenn es ein Problem gibt, wird sofort ein Ersatz geschickt." Czeslaw war schon drei Mal bei ihrem Vater, am liebsten wäre der Familie, er wäre immer da, aber die Pfleger werden in der Regel nach zwei, drei Monaten ausgetauscht, bis sie nach einer Pause wieder kommen können.

"Wer soll das bezahlen?"

Friedrichsen hofft, dass dies auch in Zukunft so bleiben wird, trotz Mindestlohn. Sie hat schon mal ausgerechnet, was es kosten würde, wenn Czeslaw wirklich für jede Stunde 8,50 Euro erhalten würde - und ist auf 10 000 Euro gekommen - für nur einen Monat. "Wer soll das bezahlen?", fragt sie. "Verarmen will ich nicht."

Verbandsexperte Benedikt Zacher sagt: "Der an sich sinnvolle Mindestlohn darf nicht dazu führen, dass Familien kriminalisiert werden oder sich die Pflege eines Angehörigen zu Hause nicht mehr leisten können und Opa oder Oma ins Heim müssen."

Ob es so schlimm kommt, ist ungewiss. Arbeiten die Helferinnen als Selbständige, gilt der Mindestlohn sowieso nicht, dieses Modell könnte deshalb im kommenden Jahr beliebter werden. Schwieriger wird es, wenn die Pflegerinnen bei einer Agentur angestellt sind, wie zum Beispiel bei Medipe aus Breslau in Polen. Das Unternehmen hat seinen Kunden in Deutschland bereits geschrieben und angekündigt, dass durch die Einführung des Mindestlohns "auch die Sozialversicherungsbeiträge und Steuersätze für die in Polen sozialversicherten und steuerpflichtigen Betreuungskräfte steigen werden". Deshalb sei mit höheren Kosten zu rechnen. Agenturen, die ihre Preise nicht erhöhten, hielten sich womöglich nicht an die Auflagen, warnt Medipe. Dies könne "zu erheblichen negativen Konsequenzen für alle Beteiligten führen". Danach folgt der Hinweis auf mögliche Geldbußen von bis zu 500 000 Euro.

Verbandsvertreter Gericke will nicht so schwarz malen. Auch er rechnet mit höheren Preisen, ohne zu glauben, dass dadurch das gesamte Entsendemodell bedroht ist. Er findet aber, dass Angebote, in denen von Preisen "ab 1300 Euro" die Rede ist, von 2015 an erst recht der Vergangenheit angehören müssten. Damit ließe sich die Dienstleistung einer Agentur, die Sozialabgaben und einen leistungsgerechten Nettolohn zahlt, schon jetzt nicht abdecken.

Die Grauzone beim Mindestlohn für osteuropäische Altenbetreuerinnen ist groß: Wenn sie nachts schlafen, fallen die 8,50 Euro sicherlich nicht an. Wenn sie zusammen mit ihrem alten Schützling Fernsehen gucken oder Weihnachtsplätzchen backen, wird es schon schwieriger. Was ist mit dem Bereitschaftsdienst? Und wie sind Kost und Logis zu verrechnen?

Der Zoll kann wenig tun

Für den Zoll, der Verstöße gegen den Mindestlohn und Schwarzarbeit aufdecken soll, ist das Entsendemodell ohnehin fragwürdig. Rein rechtlich dürfte die Familie der Pflegerin gar keine Aufträge erteilen, sondern nur die Agentur als ihr Arbeitgeber. Tatsächlich ist es jedoch unmöglich, jedes Mal bei der Agentur anzurufen, wenn die Wäsche gewaschen oder eingekauft werden soll. In der Praxis sind die Kontrolleure ohnehin eher zahnlose Tiger, dafür sorgt schon das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung. Ohne einen Verdacht, ohne einen richterlichen Beschluss geht gar nichts. Vor einer privaten Haustür, hinter der eine "Perle" arbeitet, stehen die Fahnder allenfalls, wenn ein missliebiger Nachbar oder ein Pflegedienst der Konkurrenz Anzeige erstattet hat.

Gericke plädiert deshalb für ein anderes System. Die Politiker müssten veranlassen, dass die Pflegekassen die häusliche Betreuung stärker fördern und die Beschäftigung dort entbürokratisieren. Österreich habe es geschafft, mit einem neuen Fördermodell den Anteil der legalen Beschäftigung bei der häuslichen Pflege deutlich zu erhöhen.

Sabine Friedrichsen wäre schon zufrieden, wenn ihr Vater weiter zu Hause bleiben könnte und Czeslaw so oft wie möglich wiederkommt. "Ich bin", sagt sie, "unendlich dankbar dafür, dass es Menschen wie Czeslaw gibt, die das für meinen Vater tun."

© SZ vom 13.12.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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