Panos Panagiotou ist ein regelmäßiger Gast in griechischen Fernseh- und Radiosendungen und schreibt Kolumnen für Wirtschaftszeitungen. Über die Euro-Krise hat er drei Bücher geschrieben, darunter "The Greek Crisis Affair" und "GREXIT - Euro, Drachma or double currency?". Der technische Finanzanalyst stammt aus der nordgriechischen Stadt Kavala. Er hat an der Demokritus Universität von Thrakien Jura studiert, und an der britischen Portsmouth University Mathematik mit dem Schwerpunkt Finanzwesen und Management. In seinem Lebenslauf stehen noch mehr Abschlüsse, darunter Technische Analyse an der Dow Jones University und Analyse internationalen Immobilienwesens bei Moody's Analytics in London. Panagiotou lebt seit zehn Jahren in London, wo er die "Greek Society of Technical Analysis" ("Griechische Gesellschaft für Technische Analyse") leitet.
SZ.de: Herr Panagiotou, kommt jetzt die Drachme?
Panagiotou: Griechenland spaziert seit November 2009 mit dem einen Bein Richtung Euro und dem anderen Richtung Drachme. Welchen dieser Wege das Land zu Ende geht, hängt jetzt vom politischen Willen der Euro-Staaten ab, Griechenland zu stützen. Wenn sich die EU bereit ist, Griechenland zu "opfern", um so beispielsweise die "Rettung" Spaniens und Italiens vor ihren Bürgern zu rechtfertigen, dann ist der Austritt Griechenlands aus dem Euro mittlerweile gefährlich nahe gerückt.
SZ.de: Wer kann diesen Schritt denn verhindern?
Panagiotou: Der Ball - die Entscheidung darüber, ob Griechenland zur Drachme zurückkehrt - liegt jetzt im Spielfeld Deutschlands und der EU. Zum einen, weil sich Griechenland bereits bis zum Auflösungszustand gespart hat, und zum anderen, weil es 2009 zugunsten der EU darauf verzichtet hat, alleine eine Umschuldung vorzunehmen, um sich zu retten. Diese Möglichkeit hat Athen nun nicht mehr.
SZ.de: Griechenland hätte sich selbst retten können?
Panagiotou: Damals fielen mehr als 90 Prozent aller griechischen Schulden unter griechisches Recht, das Land hätte damals längere Laufzeiten einführen oder einen Haircut seiner Schulden vornehmen und so seine Verluste auf den Privatsektor transferieren können. Diese Option aber hat die EU nicht als Chance, sondern als Gefahr wahrgenommen. Sie entschied, dass Griechenland - statt rechtzeitig eine Umschuldung vorzunehmen - einem "Überbrückungsprogramm" folgen solle.
SZ.de: Was war daran falsch?
Panagiotou: Dadurch wurden die massiven Schäden des privaten Banksektors auf den Staat übertragen. Dieser Schritt hat die Nabelschnur zwischen Europas Staaten und ihren Banken verstärkt und so die Krise vertieft. Damit wurde auch der Boden dafür bereitet, dass sich exakt derselbe Prozess auch in anderen europäischen Staaten wiederholt, wie wir es gerade beobachten.
SZ.de: Warum kann Griechenland sich heute nicht mehr selbst helfen?
Panagiotou: Griechenland hat mit dem Programm der letzten zwei Jahre Vorteile des griechischen Rechts auf für seine Schulden verloren. Nun ist es nicht mehr in der Lage, allein umzuschulden, ohne dabei einen Bankrott mit katastrophalen Folgen zu erleiden - und das zu einem Zeitpunkt, in dem die griechische Wirtschaft nach einem erschöpfenden Sparprogramm am Boden liegt. Die Leidensfähigkeit der Bürger im Land hat ihre äußersten Grenzen erreicht. Die Rezession in Griechenland ist bereits heute die drittgrößte, die es weltweit seit dem Jahr 1800 gegeben hat.
SZ.de: Das klingt, als stünden dem Land soziale Unruhen bevor.
Panagiotou: Die sozialen Unruhen haben bereits begonnen. Obwohl die Maßnahmen, die die Troika Griechenland auferlegt hat, so viel Verarmung mit sich gebracht haben, wünscht die überwältigende Mehrheit der Griechen nach wie vor, in der Eurozone und der EU zu bleiben. Die Griechen haben in dieser Krise ihre europafreundliche Gesinnung und ihren Glauben an den europäischen Traum unter Beweis gestellt. Wenn sich die Situation allerdings noch weiter verschlimmert, erreichen wir das Stadium eines wirtschaftlichen Völkermordes. Dann könnten die bereits bestehenden sozialen Turbulenzen katastrophale Formen annehmen. Das muss um jeden Preis vermieden werden.
SZ.de: Wie kann Schlimmeres verhindert werden und wie soll Griechenland innerhalb der EU gesunden, wenn es seine Währung nicht abwerten kann?
Panagiotou: Ein aktueller Bericht des Internationalen Währungsfonds (IWF) zum Thema "Entwicklung und Austerität" zeigt, dass drastisches Sparen in wirtschaftlich schwachen Ländern wie Griechenland langfristige Schäden in der Wirtschaft hinterlässt. Dieser Bericht kommt zu dem Schluss, dass bei solchen Staaten die Umsetzung der Sparmaßnahmen erst erfolgen sollte, sobald die Wirtschaft wieder im Aufschwung ist, und nicht während einer Rezession. Eine solche Form der "Entwicklungsausterität" scheint eine realistische Lösung für Länder wie Griechenland zu sein, die ihre Staatshaushalte in Ordnung bringen müssen. Sie ist ohne Abwertung der Währung möglich. Allerdings braucht es hierzu den politischen Willen in der EU. Gerade wird in der EU eher übersehen, dass Griechenland das einzige Land weltweit ist, das ohne parallele Entwertung seiner Währung in so kurzer Zeit sein Haushaltsdefizit so weit reduziert hat.
SZ.de: Wer ist für die Krise in Griechenland verantwortlich - Griechenland oder die EU?
Panagiotou: Ich will die riesige Verantwortung der griechischen Regierungen und Banken für die Probleme nicht kleinreden. Aber man muss berücksichtigen, dass bei Ausbruch der Krise 2009 auch eine Reihe externer Faktoren die griechische Wirtschaft strapazierten: die US-Bankenkrise, der Börsencrash, der Zusammenbruch des amerikanischen Immobilienmarktes. Der hat auch den griechischen Markt angesteckt. Und Immobilien sind einer der wichtigsten Wirtschaftsbereiche unseres Landes. Außerdem stieg der Ölpreis zwischen 2002 und 2008 um 600 Prozent. Griechenland importiert 98 Prozent seines Öls sowie den Großteil seiner Nahrungs- und Konsummittel.
SZ.de: Deutschland war denselben weltwirtschaftlichen Einflüssen ausgesetzt, steht aber stabil da.
Panagiotou: Zum einen hat Deutschland eine weltweit führende Industrie, zum anderen hat der Euro lange auch als Rettungsprogramm für die deutsche Wirtschaft fungiert - zu Lasten der südeuropäischen Staaten. Während einer Phase weltweiten Aufschwungs wurden die Zinsen der EZB auf einem historischen Rekordtief gehalten, um Deutschlands schwächelnde Exportwirtschaft zu stabilisieren. Als die Rezession begann, hob die EZB die Zinsen an. In den südeuropäischen Staaten führte diese Zinspolitik erst zu Aufschwungsblasen und danach zu finanzieller Erstickung. Als 2000 die Technologieblase platzte, folgte eine finanzwirtschaftliche Krise. Investitionskapital floss aus Deutschland ab, das Land rutschte in eine Rezession - auch die Wiedervereinigung war teuer. Auch die USA war in der Rezession, China noch in der ersten Phase des Imports von Gütern aus dem Westen. In den meisten europäischen Staaten außerhalb der Euro-Zone war die große Frage, wie die deutsche Wirtschaft sich wieder stabilisieren konnte.
SZ.de: Südeuropa hat Deutschland gerettet?
Panagiotou: Um diese Krise zu überwinden, hat Deutschland zugelassen, dass in sehr kurzer Zeit so viele Staaten wie möglich in die Euro-Zone aufgenommen wurden. Die EZB hat die neuaufgenommen Länder mit billigem Geld vollgepumpt, so dass sie sich deutsche Produkte leisten konnten. Im Rahmen dieser Politik hat die EZB in den Jahren 2003 bis 2006 ihre Zinsen auf zwei Prozent abgesenkt, entgegen der makroökonomischen Bedürfnisse der Eurozone.
SZ.de: War die Zinspolitik tatsächlich gezielt auf Deutschlands Bedürfnisse zugeschnitten?
Panagiotou: 2005 wies der Finanzdirektor der Investmentfirma Nomura einen führenden Beamten der EZB darauf hin, dass es unfair sei, die südeuropäischen Staaten ohne ihr Wissen zur Rettung Deutschlands heranzuziehen. Der Beamte antwortete: "Das ist der Zweck einer Währungsunion: Weil Deutschland als eine Ausnahme ohne Hilfe von außen seiner Wirtschaft kein stärkendes Paket verabreichen kann, hat es keine andere Wahl sich durch eine entsprechende Währungspolitik der ganzen Union helfen zu lassen."
SZ.de: Das hieße, dass Deutschland mehr vom Euro profitiert hat als andere Länder. Lässt sich das mit Zahlen belegen?
Panagiotou: 1998, also vor dem Eintritt in den Euro hat Griechenland Waren im Wert von 7,7 Milliarden Euro, aus Deutschland importiert. Zehn Jahre später waren es Waren im Wert von 21,5 Milliarden Euro. Parallel haben die Importe Deutschlands aus Griechenland abgenommen: vor dem Eintritt in den Euro lagen sie bei 2,2 Milliarden Euro, im Jahr 2002 waren es bereits nur noch 1,7 Milliarden Euro. Die gestiegenen Importe deutscher Produkte hätten im Süden Europas vielleicht nicht so ein großes Problem verursacht, wenn Deutschland den Gefallen erwidert hätte. Aber Deutschland hat das Gegenteil gemacht, nämlich seinen Markt durch eine Politik der Desinflation geschützt.
SZ.de: Trägt Deutschland deswegen besondere Verantwortung für die Rettung der südeuropäischen Staaten?
Panagiotou: Auf jeden Fall. Ich erkläre das mit einem Bild: Wenn wir die europäische Währungsunion mit einer Planetenkonstellation vergleichen, dann spielt Deutschland in dem System die Rolle der Sonne, die mal weniger und mal mehr brennen muss, um die übrigen Staaten weder verbrennen noch erfrieren zu lassen. Aber durch die Politik der EZB hat Deutschland in den ersten Jahren der Währungsunion den Süden überhitzt und anschließend eingefroren. Bis heute profitiert Deutschland durch den Euro: Kapital aus dem brennenden Süden fließt nach Deutschland, die Kosten der deutschen Staatsverschuldung sind gleich null. Nun ist auch Deutschland an der Reihe, den "Gefallen" der Euro-Zone zu erwidern.
SZ.de: Aber man kann die Staaten Südeuropas doch nicht aus der Verantwortung für ihre Lage entlassen?
Panagiotou: Natürlich kann man argumentieren, dass die südeuropäischen Staaten selbst für ihre Situation verantwortlich sind und von Beginn an vorsichtiger hätten handeln müssen. Wenn dies aber das einzige Argument ist, wird Deutschland hinnehmen müssen, dass ein Teil oder sogar der ganze Süden der Union verbrennt.
SZ.de: Was soll die EU tun, um Griechenland zu retten?
Panagiotou: Zunächst sollte sie die vielen Opfer aber auch Erfolge Griechenlands anerkennen: Das Haushaltsdefizit ist auf einem Rekordwert gesenkt worden. Löhne und Renten sind stärker gekürzt worden, als je in einem entwickelten Land. Gleichzeitig haben die Steuern einen Höchstwert erreicht, alle Arbeiterrechte, die in Jahrzehnten mühsam erkämpft wurden, wurden quasi über Nacht aufgehoben. Lebensstandard und Kaufkraft der Bürger haben um mehr als 50 Prozent abgenommen, die Arbeitslosigkeit hat ihren Zenit erreicht.
SZ.de: Aber die EU verlangt im Gegenteil ja, dass der Sparkurs beibehalten wird.
Panagiotou: In Griechenland müssen aus humanitären Gründen Grenzen gezogen werden, die Umsetzung einiger Sparmaßnahmen muss zumindest für sozial Schwache auf Eis gelegt werden. Die Einsparungen im Gesundheitswesen sind gemessen am Sozialprodukt die höchsten weltweit je getätigten Kürzungen. Die Menschen haben keinen Zugang mehr zu einem funktionierenden Gesundheitswesen und speziellen Medikamenten. Krankheiten brechen auf einmal wieder aus, die seit Jahrzehnten ausgerottet waren. Wenn das so weitergeht, haben wir bald Zustände wie in einem Science-Fiction-Thriller.
SZ.de: Mit Einsparungen allein ist Griechenland also nicht zu retten?
Panagiotou: Griechenlands Problem ist maßgeblich ein Bankenproblem. Die Finanzhilfen des Staates an die Banken belasten die Staatskasse enorm, sie müssen aufhören. Mit über 190 Milliarden Euro hat der Staat die griechischen Banken gestützt, das sind 90 Prozent seines Sozialprodukts. In Deutschland entspräche das einem Betrag von zwei Billionen Euro. Müsste Deutschland seine Banken mit diesem Betrag unterstützen, befände es sich auch in der Rezession.
SZ.de: Wie wird das Griechenland-Drama am Ende ausgehen?
Panagiotou: Unser Land ist ein Patient, der parallel an Lungenentzündung und Diabetes leidet - zwei sehr unterschiedlichen Krankheiten. Um seine Lungenentzündung zu heilen, muss er sich ausruhen und viele Vitamine zu sich nehmen. Um seine Diabetes zu heilen, muss es Sport treiben und Diät halten. Wenn wir weiterhin alles daran setzen, die Diabetes zu heilen, statt zuerst die Lungenentzündung auszukurieren, wird Griechenland an der einen Krankheit sterben, bevor es ein Chance hat, die andere auszukurieren.