Berlin/Bonn (dpa) - Es ist eines der größten Projekte der Energiewende - und eines der umstrittensten: Der milliardenschwere Ausbau von Stromnetzen quer durch die Republik. Damit soll der vor allem im Norden produzierte Windstrom in den Süden kommen.
Der Ausbau der Stromnetze kommt zwar schrittweise voran - es müssen aber noch Tausende Kilometer Leitungen neu gebaut oder umgebaut werden. Auch angesichts von Protesten sagte der Präsident der Bundesnetzagentur, Jochen Homann, die Energiewende werde nur als „Gemeinschaftswerk“ gelingen.
„Die ohnehin schon großen Erwartungen an die Energiewende - sicher, bezahlbar, klima- und umweltfreundlich - werden im politischen Alltag überlagert durch eine Fülle von regionalen und sektoralen Sonderwünschen“, sagte Homann der Deutschen Presse-Agentur.
An vielen Orten haben sich Bürgerinitiativen gegen die Stromautobahnen gebildet - wie auch gegen den Bau von Windrädern. Sie bezweifeln die Notwendigkeit von „Riesentrassen“, es gibt Angst vor möglichen Strahlungen. Dazu kommen Klagen und lange Gerichtsverfahren, Streit um Standorte etwa von Konvertern und Umspannwerken. Die einen sind gegen Freileitungen, die anderen gegen Erdkabel. Und immer wieder gibt es Streit, wo genau in den Ländern die Trassen herführen sollen.
Die Bundesnetzagentur sieht aktuell große Fortschritte vor allem bei den Genehmigungsverfahren. Nach Angaben der Bundesbehörde befinden sich von den knapp 7700 Kilometern zu realisierenden Stromtrassen, von denen ein Großteil auch verstärkt und optimiert werde, 1700 Kilometer im Raumordnungs- oder Bundesfachplanungsverfahren. Rund 3100 Kilometer sind demnach vor dem oder im Planfeststellungsverfahren. Weitere 800 Kilometer sind genehmigt, vor dem oder im Bau. Rund 1300 Kilometer Stromtrasse seien fertiggestellt - nach Angaben von vor einem Jahr waren es damals 1100 Kilometer. Etwa 800 Kilometer befänden sich noch vor einem Genehmigungsverfahren.
So seien aktuell alle Abschnitte der geplanten Stromtrasse Suedostlink (von Sachsen-Anhalt nach Bayern) in der Planfeststellung. Beim Suedlink (von Schleswig-Holstein nach Süddeutschland) werde voraussichtlich dieses Jahr der Trassenkorridor festgelegt. Danach beginne auch hier die Planfeststellung.
Der Streit um neue Stromtrassen aber geht weiter. Vor kurzem zeigte sich Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) empört über einen Vorschlag von vier westdeutschen Bundesländern, die Suedlink-Stromtrasse mit einer zusätzlichen Leitung zu versehen. „Das bedeutet, dass sich West-Bundesländer auf dem Rücken eines Ost-Bundeslandes aus der Affäre ziehen“, sagte Ramelow. Hintergrund ist nach seinen Angaben ein Brief der Fachminister aus Baden-Württemberg, Niedersachsen, Hessen und Schleswig-Holstein an Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Darin werde vorgeschlagen, eine Leitung mit der Suedlink-Trasse zu verbinden, die auch durch Thüringen führen soll.
Die Suedlink-Trasse soll von Schleswig-Holstein bis Baden-Württemberg führen - durch Niedersachsen, Hessen, Thüringen und Bayern. Gegner fürchten, dass darüber nicht nur Windstrom von Nord- nach Süddeutschland fließen könnte, sondern auch ausländischer Atom- und Kohlestrom. Das Investitionsvolumen beträgt laut den Netzbetreibern Tennet und TransnetBW rund zehn Milliarden Euro.
Bei der Energiewende sollen Energiequellen wie Kohle, Gas und Atomkraft von umweltfreundlicheren Energieträgern aus Sonne und Wind ersetzt werden. Bis 2022 soll das letzte Kernkraftwerk abgeschaltet sein, bis spätestens 2038 ist außerdem der Kohleausstieg geplant. Der Ökostrom-Anteil am Stromverbrauch soll bis 2030 deutlich steigen.
Die Bundesnetzagentur mit Sitz in Bonn wies darauf hin, dass der Netzausbau auch mit Inbetriebnahme der Projekte, die sich in der Genehmigung befinden, nicht abgeschlossen sei. Noch in diesem Jahr werde voraussichtlich ein neues Bundesbedarfsplangesetz mit zusätzlichen Vorhaben beschlossen, wie etwa einen neuen Gleichstrom-Korridor von Schleswig-Holstein ins Ruhrgebiet.
Die Herausforderung im Netzausbau sei es, die Zeitpläne, die zwischen Politik, Netzbetreibern und Bundesländern vereinbart wurden, einzuhalten. „Neben den Transportaufgaben der Strom- und Gasnetze sind ausreichende Erzeugungskapazitäten, belastbare Regelungsmechanismen für die Netzstabilität und hinreichender Schutz der Netze und Anlagen gegen Eingriffe Dritter sowie die gesamtgesellschaftliche Akzeptanz für den politisch gewählten Weg bedeutende Herausforderungen der Energiewende.“
Der FDP-Energiepolitiker Martin Neumann nannte die Stromtrassen die „Achillesferse“ der Energiewende. „Das derzeitige System krankt vor allem an zu viel Bürokratie und komplizierten Planfeststellungsverfahren“, sagte Neumann am Mittwoch. Altmaier müsse deutlich mehr Tempo machen. Die Bürger müssten eingebunden werden, um nachhaltig Akzeptanz zu erzeugen.
Altmaier hatte vor zwei Jahren eine erste „Netzausbaureise“ gemacht und einen Aktionsplan für einen schnelleren Ausbau der Stromnetze vorgelegt - bei Ortsterminen sah sich der Minister mit viel Kritik der Bevölkerung konfrontiert.
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