Digitale Utopien:Zurück bleiben nur Berge von Fahrrädern

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Rund 10000 Leihfahrräder des Anbieters Obike stehen in einer Lagerhalle in Schleswig-Holstein. In mehreren deutschen Städten gab es Probleme mit den silber-gelben Leihrädern von Obike. Dann machte die Firma plötzlich pleite - und in Deutschland lagen schlagartig Zehntausende Fahrräder herum. (Archvibild) (Foto: dpa)

Der Technopopulismus aus dem Silicon Valley war der Traum von einer digitalen Welt, in der jeder Künstler, Unternehmer, Rebell ist. Daraus wurde eine brutale Industrie, die viel zerstört und wenig schafft.

Von Evgeny Morozov

Von sämtlichen Ideologien, die das Silicon Valley hervorgebracht hat, ist der Technopopulismus die absonderlichste. Es sind leere Versprechungen, die auf digitaler Disruption seismischen Ausmaßes beruhen und es schaffen, dass sich politische Kräfte davon angesprochen fühlen, die ansonsten kaum einen gemeinsamen Nenner finden. Globalisten und Anti-Globalisten etwa, Nationalisten und Progressive. Mit dem Versprechen einer Welt der unmittelbaren und schmerzfreien persönlichen Selbstermächtigung ist der Begriff schwammig genug, um große Technologieunternehmen, Start-ups, Kryptowährungs-Aficionados und selbst die eine oder andere politische Partei zu vereinigen.

Sie versprechen Dezentralisierung, Effizienz und Zwanglosigkeit

Seine Vorgeschichte ist eher undurchsichtig. Das genaue Datum, an dem der Techno-Populismus Mainstream wurde, ist jedoch bekannt. Er geht zurück in das Jahr 2006, als das Time Magazine "You" zur "Person des Jahres" kürte, also all jene Millionen, die hinter dem nutzergenerierten Web der Nullerjahre standen. Damit wurden techno-populistische Themen tief in unser kollektives Unbewusstsein eingemeißelt.

Obwohl die Zahl derer, die aktiv zu Webseiten wie Wikipedia oder Flickr beitrugen, relativ gering war, sorgte ihr universelles Freudenfest dafür, dass Fragen zur Macht der Konzerne und der Beständigkeit des aufstrebenden digitalen Utopia hintangestellt und abgebogen wurden. Nur wenige Jahre später war dieser Zukunftstraum tot und begraben: Hochzentralisiert und von lediglich einer Handvoll Plattformen dominiert, war das Web nur mehr ein Schatten seines vormals exzentrischen Selbst.

Heute - im Jahr 2018 - ist der omnipotente, kreative User von 2006 zu einem zombieähnlichen Content-Junkie verkommen, süchtig danach, ständig und überall zu scrollen und zu liken, für immer und ewig gefangen in den unsichtbaren Käfigen der Datenbroker. Der ehrenwerte Versuch, jeden von uns zu einem Ehrenmitglied des innersten Zirkels der kulturellen Elite zu machen, hat uns stattdessen alle in die unauslöschlichen Listen der Cambridge Analytica verdammt.

Der Mythos des "Nutzers, der ein Künstler ist" existiert nicht mehr. Der Geist des Techno-Populismus nährt sich jedoch heute von zwei ebenso mächtigen Mythen: der "Nutzer, der ein Unternehmer ist" und der "Nutzer, der ein Konsument ist". Sie versprechen viel: mehr Dezentralisierung, Effizienz, Zwanglosigkeit, und halten dabei die eigentliche Dynamik der digitalen Wirtschaft verborgen. Folglich ist die digitale Zukunft, die vor uns liegt - dominiert von Zentralisierung, Ineffizienz und Fremdkontrolle - schwieriger zu erfassen.

Als Uber, Airbnb und ähnliche Plattformen noch in den Kinderschuhen steckten, konnte man fast glauben, dass eine globale Revolution horizontal differenziertere und informellere wirtschaftliche Aktivitäten freisetzen würde. Weg mit Berufskraftfahrern, Limousinen und Hotels; her mit Amateuren, Fahrrädern und Schlafcouches! Eine attraktive Vision, verankert in der gegenkulturellen Rebellion gegen Autorität, Hierarchie und Expertise. Eines fehlte ihr jedoch: der Rückhalt von politischen Parteien und sozialen Bewegungen.

Letztere, einmal an der Macht, hätten dafür Sorge tragen können, dass für lokale Plattformen angemessene öffentliche Mittel bereitgestellt worden wären, um nicht den brutalen Gesetzen des Wettbewerbs ausgesetzt zu sein, und sie hätten ihren politischen Einfluss geltend machen können, um sie vor kommerziellen Wettbewerbern mit dicken Brieftaschen zu bewahren. Ähnliche Anstrengungen im vergangenen Jahrhundert - ein politisches Unterfangen par excellence - haben uns den Wohlfahrtsstaat beschert.

Statt die Bildung und die medizinische Versorgung in die Hände privater Anbieter zu legen, wurden diese Bereiche den Zwängen des Marktes ganz bewusst entzogen. Zwar war der neu entstandene Wohlfahrtsstaat von einigen hierarchischen Exzessen geprägt, angesichts der politischen und technologischen Beschränkungen der damaligen Zeit war es jedoch ein vernünftiger Kompromiss.

Heute kann man sich für die Bereitstellung solcher Dienstleistungen leicht einen horizontal differenzierteren Ansatz vorstellen, bei dem die lokale Autonomie, die demokratische Entscheidungsfindung und individuelle Eigenheiten weniger eingeschränkt werden. Dasselbe gilt für die Wirtschaft als Ganzes. Digitale Plattformen, Mittler des Zusammenspiels zwischen Bürgern, zwischen Bürgern und Unternehmen, aber auch zwischen Bürgern und Institutionen, sollten für diese Transformation von zentraler Bedeutung sein.

Uber baut selbstfahrende Autos, Airbnb Hotelanlagen. Die Gesetze des Marktes verlangen das

Es zeichnet sich jedoch bislang kein ähnliches politisches Unterfangen mit dem Ziel der Dekommodifizierung des frisch demokratisierten Staates und der Wirtschaft ab. Folglich sollten die lobenswerten Ziele der Selbstermächtigung, des Lokalismus und des Horizontalismus durch Einschmeicheln bei dem zwar mächtigen, aber heimtückischen Verbündeten erreicht werden, das heißt durch Synchronisierung des Herzschlags und der Bedürfnisse der digitalen Plattformen mit denen des globalen Kapitals.

Alles lief gut - zumindest am Anfang. Car-, Bike- und Flatsharing sind regelrecht explodiert, dank massiver Kapitalspritzen, viele davon aus Staatsfonds oder von Risikokapitalgebern. Wie nett von Saudi-Arabien, mit seinen Erdöleinnahmen - durch Geschäfte mit der SoftBank in Japan - Reisen und Mahlzeiten in aller Welt zu subventionieren. Die Anbieter von Waren und Dienstleistungen auf digitalen Plattformen sowie deren Käufer und Mieter hatten allen Grund zum Jubeln. Erstere erhielten so die Möglichkeit, ihre ungenutzten Ressourcen von leer stehenden Wohnungen bis hin zu freier Zeit zu Geld zu machen. Letztere profitierten von Rabatten auf Fahrten, Mahlzeiten und Buchungen.

Viele finanziell angeschlagene (Städte?) konnten nun auf digitale Plattformen zählen, wenn es darum ging, ihre marode Infrastruktur auszubauen bzw. zu erneuern und den Tourismus anzukurbeln.

Dieses Märchen ist nun zu Ende.

2018 bedeutet für die Sharing Economy das, was 2006 für nutzergenerierte Inhalte bedeutete. Von hier aus kann es nur noch abwärts gehen. Plattformen werden nicht einfach verschwinden. Die ursprünglich hochgesteckten Ziele, die ihre Aktivitäten legitimierten, werden jedoch dem nüchternen und manchmal auch brutalen Imperativ weichen, den das eiserne Wettbewerbsgesetz auferlegt: Streben nach Profit.

Uber mag mit gelegentlichen Fahrdiensten einigen armen Leuten geholfen haben, finanziell über die Runden zu kommen. Die Notwendigkeit, rentabel arbeiten zu müssen, bedeutet jedoch, dass das Unternehmen letztendlich keinerlei Skrupel haben wird, sich seiner Fahrer zu entledigen und auf vollautomatische Fahrzeuge umzusteigen. Ein Unternehmen, das allein im vorigen Jahr 4,5 Milliarden Dollar Verlust gemacht hat, wäre schlecht beraten, anders zu handeln.

Airbnb mag sich als Verbündeter des Mittelstands gegen fest eingewurzelte wirtschaftliche Interessen präsentiert haben. Doch der Zwang zu höherer Wirtschaftlichkeit zwingt das Unternehmen schon jetzt, sich mit Firmen wie Brookfield Property Partners zusammenzuschließen, einer der größten Immobiliengesellschaften der Welt, um hotelähnliche Wohnanlagen à la Airbnb entstehen zu lassen, oftmals durch den Aufkauf oder den Umbau bestehender Apartmenthäuser. Nur wenige fest eingewurzelte Interessen werden hier verletzt. Mal vielleicht abgesehen von denen der Mieter, die mit ansehen müssen, wie ihre Wohnblöcke in Airbnb-Hotels umgewandelt werden.

Angesichts der gewaltigen Geldsummen, um die es dabei geht, werden die derzeitigen Kämpfe, wie sie etwa im Bereich Ridesharing ausgefochten werden, vermutlich zu einer stärkeren Zentralisierung führen, sodass jede Region am Ende von lediglich einer oder zwei Plattformen kontrolliert werden wird. Die Kapitulation von Uber in China, Indien, Russland sowie in weiten Teilen Südostasiens und Lateinamerikas vor lokalen Playern, hinter denen oftmals ebenfalls saudische Investoren stehen, legt dies nahe.

Und die alteingesessenen und hierarchischen Industrien werden nicht ewig untätig bleiben, wie uns auch die Erfahrung der vorangegangenen digitalen Revolution lehrt. Man denke nur an den kürzlich erfolgten Aufkauf des vielversprechenden Start-ups für E-Scooter mit dem Namen Spin durch den Automobilkonzern Ford.

Derartige Entwicklungen stehen im Widerspruch zu der techno-populistischen Rhetorik der Disintermediation. Sie generieren darüber hinaus eine Menge Abfall - Berge herrenloser Fahrräder, überall rund um den Erdball. Die zunehmende Verkehrsdichte auf verstopften Straßen - die Konsequenz dessen, dass wir es zulassen, dass das globale Kapital das Ridesharing erobert, statt die Angebote der weitaus effizienteren öffentlichen Verkehrsmittel auszubauen - bekommen wir bereits zu spüren.

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Wir können uns nicht einfach eine demokratischere Gesellschaft kaufen

Die Müllberge, die von den neuen Zulieferdiensten der Shoppingportale generiert werden, entsprechen wohl kaum der nachhaltigen Zukunft, wie sie von Techno-Populisten beworben wird. Die stark subventionierten Fahr- und Menüpreise - temporäre Folgen des intensiven Wettbewerbs - werden nicht von Dauer sein. Die hohen Verluste müssen von den wenigen erfolgreichen Wettbewerbern irgendwann wieder hereingeholt werden - vermutlich über höhere Preise.

Der Mythos der Gegenwart vom omnipotenten Verbraucher-Unternehmer ist tot. Der Techno-Populismus wird jedoch überleben und weiterhin pauschale Versprechen über die Blockchain, künstliche Intelligenz oder auch die Smart City verkünden. Viele dieser Versprechen mögen sehr verlockend sein. Doch ohne eine starke politische Agenda - die sich keinerlei Illusionen hinsichtlich der Fähigkeit des globalen Kapitals, die soziale Emanzipation voranzutreiben, hingibt - werden sie genau das Gegenteil bewirken.

Wir können nicht einfach hingehen und uns eine demokratischere Gesellschaft kaufen - und ganz gewiss nicht mit saudischem Geld.

Aus dem Englischen von Martina Wendl.

© SZ vom 30.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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