Spinnturm nennen die Forscher diesen fensterlosen Trakt ihres Instituts für Textiltechnik in Aachen. Hier oben, im dritten Stock eines Neubaus der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule (RWTH) schmilzt Kunststoff im heißen Gehäuse der großen Spinnmaschine. Eine Pumpe presst die Masse durch eine Schablone mit Düsen, die so fein sind, dass man die Löcher auf den ersten Blick kaum sieht. Darunter zieht der Kunststoff hauchdünne Fäden, die unten im Erdgeschoss mit einer Saugpistole eingefangen und aufgewickelt werden.
Der Spinnturm ist der Schauplatz einer Neuheit, die der Kunststoffkonzern Covestro Anfang Juli vorstellen will. Das Besondere an der elastischen Textilfaser der Forscher: In dem Kunststoff steckt eine kleine Brise CO₂. Das für den Klimawandel mitverantwortliche Treibhausgas ist in der Faser zu einem kleinen Anteil chemisch fest gebunden.
Was nach einer sprichwörtlichen Spinnerei klingen mag, ist für Thomas Gries ein Durchbruch. Der 55-jährige Wirtschaftsingenieur hat früher selbst für einen Anlagenbauer gearbeitet, der Textilhersteller belieferte. Heute leitet er als Professor das Aachener Institut, in dem an Textilien der Zukunft geforscht wird. Mit der neuen CO₂-Faser experimentieren auch Socken- und Sportartikelfirmen. Erste Tests seien vielversprechend, sagt Gries.
Elastische Fasern mit CO₂ verhelfen Socken zum perfekten Sitz
Für viele Industrieunternehmen ist CO₂ derzeit noch ein reines Abfallprodukt. Kohlemeiler und Stahlwerke, Chemie- und Zementfabriken pusten jährlich Millionen Tonnen in die Atmosphäre. Nicht erst seit den Demonstrationen von Fridays for Future müssen sie sich fragen, welche Verantwortung sie für die Erderwärmung mit all ihren Folgen tragen. Doch CO₂ kann auch ein Rohstoff sein, etwa für Kunststoffhersteller. Was sie aus dem Klimakiller gewinnen, zeigt ein Ausflug ins Rheinland, zu Traditionsunternehmen die einst mit der Kohle groß geworden sind.
Im Aachener Institut liegen die ersten Produkte aus, in denen Markenhersteller die CO₂-basierte Faser testweise verarbeitet haben: zwei Paar bunte Socken etwa, die sich anfühlen wie ganz gewöhnliche Strümpfe. Auch für elastische Bänder, die etwa im Hosenbund oder in BH-Trägern stecken, sei das neue Material geeignet, sagt Gries. "Die elastischen CO₂-basierten Textilfasern bestehen weder aus Baumwolle, deren Anbau viel Wasser benötigt, noch aus dem knappen Rohstoff Wolle."
Dem Wissenschaftler schweben viele neue Anwendungen vor. Gut 80 Prozent aller Kleidungsstücke bestehen zumindest teilweise aus elastischen Materialien. Fasern wie Elastan sind dehnbar, aber reißfest. Nicht nur Socken und Stützstrümpfe bestehen zu ein paar Prozent aus elastischen Fasern für den perfekten Sitz. "Die Textilbranche insgesamt ist die drittgrößte Industrie der Welt und die zweitgrößte Konsumbranche Deutschlands", sagt Gries. "Das zeigt, wie groß das Potenzial CO₂-basierter Textilfasern ist."
Forscher wollen Treibhausgase in Kraftstoffe umwandeln
Der Leverkusener Konzern Covestro liefert den Rohstoff dafür: ein Granulat, das zum Teil aus CO₂ besteht. Wie Tausende kleine Hagelkörner lagert es in blauen Blechzylindern, oben im Spinnturm. Die Forscher trocknen den Kunststoff in einer großen Trommel, damit sich später ja keine Dampfblasen in der Faser wölben. Was Gries und seine Mitarbeiter heute im Spinnturm erproben, soll schon bald in großen Fabriken funktionieren. Covestro und die RWTH bereiten gerade ein Folgeprojekt mit Spinnmaschinenbauern, Sportartikel- und Textilherstellern vor, das die CO₂-Textilien binnen drei Jahren in die Verkaufsregale bringen soll. Da Rohstoffkosten ohnehin nur einen Bruchteil des Preises einer Markensocke oder eines Sportschuhs ausmachen, soll die Innovation nicht an den Kosten scheitern. Gries jedenfalls ist zuversichtlich: "Viele Industriepartner öffnen sich derzeit für einen Wechsel hin zur Bioökonomie." Also weg von endlichen Rohstoffen wie Erdöl, hin zu erneuerbaren Quellen.
Wissenschaftler der RWTH Aachen spinnen eine Faser, die zum Teil aus CO₂ besteht.
(Foto: oh)Das Einfangen und Nutzen von CO₂, sogenanntes Carbon Capture and Usage (CCU), ist ein Beispiel dafür. Auch Siemens und der Chemiekonzern Evonik etwa wollen Spezialchemikalien aus CO₂ herstellen und dazu bis 2021 eine Versuchsanlage im Ruhrgebiet aufbauen. Deutschlands größter Einzelemittent von CO₂, der Kohlekonzern RWE, hat erst kürzlich eine Projektanlage skizziert, um Treibstoffe aus CO₂ und Wasserstoff zu produzieren.
Auf der anderen Seite der Wertschöpfungskette können dann etwa die Hersteller von Dünger, Matratzen, Möbeln und Textilien Waren anbieten, in denen ein Hauch CO₂ fest gebunden und der Atmosphäre entzogen ist. Derlei Symbiosen entstehen gerade in Deutschland, vor allem dort, wo noch viel Industrie vorhanden und die Wege zwischen Fabriken, Kraftwerken und Laboren kurz sind.
"Ich bin verblüfft, für wie viele Anwendungen Cardyon geeignet ist"
Bei Covestro tüftelt Christoph Gürtler seit 2007 daran, was sich mit dem Klimakiller anstellen lässt. Der groß gewachsene Doktor der organischen Chemie hat in seinem Leben schon mehr als 120 Patente entwickelt. Damals war der heute eigenständige Dax-Konzern noch die Kunststoffsparte von Bayer, und die Verwendung von CO₂ galt allenfalls als Spielerei in Leverkusen. Dennoch entstanden eine Projektgruppe und ein erster Laborreaktor.
Gürtler sieht, dass die Energiewirtschaft an der Dekarbonisierung, also dem Ausstieg aus Kohle, Erdöl und Gas, arbeitet. Aber er sagt auch: "Wir brauchen Kohlenstoff als Rohstoff." In Dormagen bei Köln gewinnt Covestro seit 2016 einen kleinen Teil des Kohlenstoffs aus CO₂-Emissionen einer Nachbarfabrik. Dort entsteht ein Kunststoff namens Cardyon, durchsichtig, ähnlich dickflüssig wie Honig, der bis zu 20 Prozent aus CO₂ besteht. "Ich bin verblüfft, für wie viele Anwendungen Cardyon geeignet ist", sagt Gürtler: von Textilien über Schaumstoffe bis zu Bindemitteln.
In Dormagen lebt man seit 100 Jahren die industrielle Symbiose. Einst als Bayer-Werk entstanden, ist der "Chempark" am Rhein heute so groß wie 500 Fußballfelder. Schiffe transportieren Rohstoffe hierher, die in Pipelines über den Köpfen der Menschen in die Fabriken fließen, und nehmen fertige Chemikalien mit. Da Bayer in der Vergangenheit immer wieder Konzernteile abgespalten hat, sitzen mittlerweile 60 verschiedene Betriebe hier. Doch die Logik des Verbunds bleibt: Die Nebenprodukte der einen Fabrik sind die Rohstoffe der anderen. Lauter bunte Röhren verbinden die Werke auf halber Höhe.
Mit Cardyon ist nun auch CO₂ Teil des Verbunds: Covestro nutzt das Gas, das in einer Ammoniakanlage in der Nähe entsteht. Das CO₂ strömt unter Druck in einen Kessel, der einige Meter tief ins Untergeschoss ragt. 50 riesige Schrauben halten den dickwandigen Reaktor zusammen. Es ist heiß, die Abwärme zahlloser Anlagen heizt die Luft auf.
5000 Tonnen Cardyon kann Covestro jährlich herstellen. Das mag nach viel klingen, sind aber nur ein paar Prozent all der Kunststoffvorprodukte, die Covestro produziert. "Es ist nicht unser Anspruch, mit Cardyon das Klima zu retten", sagt Gürtler. "Doch wir können CO₂ hier nutzen, um fossile Rohstoffe einzusparen." Die Anlage sei ein Anfang, sie solle größer werden. "Aber es dauert Jahre, bis die Chemie in den Prozessen stimmt und bis sich CO₂-basierte Produkte am Markt etablieren."