Constanze Kurz, 39, ist Informatikerin und Sprecherin des Chaos Computer Clubs (CCC), der sich für Bürgerrechte im Internet einsetzt. Der CCC kämpft für grenzüberschreitende Informationsfreiheit und das Recht auf weltweit ungehinderte Kommunikation.
Süddeutsche.de: Wie sehr hat Sie die Enthüllung über den Militärnachrichtendienst NSA überrascht, der großflächig Daten von Internetkonzernen abgreift?
Constanze Kurz: Dass der amerikanische Geheimdienst große Mengen an Daten überwacht und speichert, hat mich überhaupt nicht überrascht. Beim Chaos Computer Club haben wir schon lange Informationen darüber, dass in großem Maße heimlich herumgeschnüffelt wird. Was mich allerdings sehr überrascht hat, ist, in welchem Umfang dort Daten erhoben und sogar an Drittfirmen weitergegeben werden. Das zeigt, wie wenig reglementiert die NSA gearbeitet hat. Sie untersteht keiner Form von staatlicher Kontrolle. Das finde ich rechtsstaatlich gesehen äußerst fragwürdig.
Welche Informationen haben schon früher auf die Datenüberwachung hingewiesen?
In der Hacker-Szene geisterte schon länger die Frage herum, wer Softwareprogramme wie zum Beispiel Palantir für welche Zwecke nutzt. Wir wissen, dass Palantir auch von diktatorischen Regimen zur Datenüberwachung genutzt wird, bleibt die Frage, ob es nicht auch in westlichen Ländern zum Einsatz kommt. Außerdem errichtet die US-Regierung gerade dieses Datencenter in der Wüste von Utah, wo unserer Ansicht nach Überwachungsdaten in riesigen Mengen gespeichert und verarbeitet werden sollen. Und schließlich gab es im März dieses Jahres ja bereits eine Senatsanhörung, bei der der Geheimdienst konkret gefragt wurde, ob auch Daten von US-Nutzern überwacht werden. Antwort: nein. Jetzt wissen wir, dass die Senatoren schlichtweg belogen wurden.
Wie ist eine so großangelegte Überwachung technisch überhaupt möglich?
Das Überwachen als solches ist gar nicht so aufwändig. Da gibt es automatisierte Abfragesysteme, mit denen man ganz einfach zum Beispiel nach Namen und Kontaktdaten suchen kann. Über Schnittstellen zwischen Prism und den Softwareprogrammen der Telefonanbieter werden dann die interessanten Informationen ermittelt. Aufwändig wird die ganze Überwachung erst, wenn man das, was man dabei herausbekommt, auch speichern will. Deswegen wird vermutlich gerade das Datencenter in Utah gebaut.
Gibt es irgendeine andere Organisation neben der NSA, die technisch noch dazu in der Lage wäre?
Google wäre wohl als einzige Organisation noch imstande, eine derart großangelegte Überwachung zu stemmen. Aber das darf man auf keinen Fall vergleichen. Google ist schließlich ein Wirtschaftsunternehmen, das für seine Werbekunden die Daten seiner Nutzer speichert. Die NSA ist ein Geheimdienst. Wenn der dreimal "Terror" ruft, dann können Menschen daraufhin sterben, weil ihnen plötzlich Drohnen über die Köpfe fliegen. Die möglichen Konsequenzen von Datenüberwachung durch den Geheimdienst sind also offensichtlich sehr viel krasser als bei Google.
Google, Yahoo und die anderen Internetfirmen hatten zunächst dementiert, dass sie von der Überwachung durch die NSA gewusst hätten. Halten Sie das für glaubhaft?
Für meinen Geschmack sind die Dementis viel zu spezifisch, sie sind regelrecht überspezifisch. Die Firmen dementieren Dinge, die so niemand gefragt hat. Google zum Beispiel behauptet in seiner Stellungnahme, dass die NSA ihres Wissens nach "keinen direkten Zugang" zu den Daten ihrer Kunden gehabt hätte. Dann war es vielleicht kein direkter Zugang, dafür aber wahrscheinlich ein Zugang über eine Schnittstelle. Mit solchen Aussagen enttarnen die Unternehmen sich selbst als Lügner. Denn dass eine Internetfirma von diesem Kaliber nichts von einer Anzapfung mitbekommt, halte ich für unmöglich.
Sind noch mehr Enthüllungen zu erwarten?
Da kommt noch was auf uns zu. Ich glaube, dass die NSA noch mehr Leichen im Keller hat. Ihre Aufgabe ist und war es schon immer, Daten zu sammeln - und das macht sie. Allerdings vermute ich auch, dass das Phänomen der Whistleblower zunehmen wird, also, dass mehr Informanten aus den eigenen Reihen mit Missständen an die Öffentlichkeit gehen werden. Der Prism-Whistleblower Edward Snowden wird Nachahmer finden - und wer weiß, was dann noch alles ans Licht kommen wird. Zum Beispiel würde mich interessieren, wie lange die NSA eigentlich schon Daten überwacht. Wie viele geheime Gerichtsbeschlüsse hat es in der Sache schon gegeben? Welche technischen Möglichkeiten zur Überwachung hat der Geheimdienst bereits entwickelt? Es gibt viele offene Fragen, deren Antworten uns in Zukunft noch schockieren könnten.