Großbritannien:Misstrauensvotum? "Ich schließe im Moment gar nichts aus"

Großbritannien - Der britische Schatzkanzler Philip Hammond

Tee muss sein vor großen Reden: Hammond hat die Finanzen des britischen Staates verwaltet und jährlich die Haushaltspläne verkündet.

(Foto: Chris J. Ratcliffe/Getty)

Kurz vor seinem Rücktritt erklärt der britische Schatzkanzler Philip Hammond, wie er sich einem Premierminister Johnson widersetzen würde. Beim Thema Brexit appelliert er an die Europäer, "nicht auf die wenigen Krachmacher" zu hören.

Interview von Marie Charrel und Leo Klimm, Chantilly

Philip Hammond, 63, ist der britische Schatzkanzler - noch: Nächste Woche, wenn die Konservative Partei einen neuen Vorsitzenden hat, wird Hammond gemeinsam mit Premierministerin Theresa May zurücktreten. Am Rande des G-7-Finanzministertreffens in Chantilly nahe Paris gab er der SZ und Le Monde sein letztes Interview in europäischen Medien.

SZ: Die künftige EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat angeboten, den EU-Austritt Großbritanniens über den Termin am 31. Oktober hinaus zu verschieben. Ist es eine gute Idee, den Brexit immer weiter zu vertagen?

Philip Hammond: Nicht immer weiter. Aber in der Praxis ist eine Verlängerung dringend nötig. Es ist schlicht unmöglich, auch nur irgendetwas bis zum 31. Oktober auszuhandeln in Anbetracht der Tatsache, dass die Sommerpause beginnt, eine neue EU-Kommission ins Amt kommt und die Regierung des Vereinigten Königreichs wechselt. Wenn die künftige Regierung in London den aufrichtigen Willen hat, einen Deal mit Europa zu treffen, braucht sie zusätzliche Zeit. Und sollte sie sich nicht um diese Zusatzfrist bemühen, wird das britische Parlament darauf pochen, den Aufschub zu erhalten.

Boris Johnson, der Favorit zur Nachfolge von Premierministerin Theresa May, ist zu einem Brexit ohne Austrittsvertrag bereit. Sind wiederum Sie bereit, alles zu tun, um ihn davon abzuhalten?

Ich bin weiter Abgeordneter im Unterhaus. Ich werde von der Hinterbank aus alles tun, um sicherzustellen, dass das Parlament einen ungeordneten Brexit blockiert.

Würden Sie ein Misstrauensvotum gegen einen Premierminister unterstützen, der einen "No Deal" vorantreibt?

Ich werde dafür eintreten, dass es keinen EU-Austritt ohne Zustimmung des Parlaments gibt. Wir sollten einen weiteren, ehrlichen Versuch unternehmen, eine Einigung zu erzielen. Falls wir im Unterhaus keine Lösung finden, müssen wir womöglich das britische Volk noch einmal befragen, in der einen oder anderen Form.

Sie schließen also nicht aus, ein Misstrauensvotum gegen Boris Johnson zu unterstützen.

Ich schließe im Moment gar nichts aus.

Falls sich Europäer erleichtert fühlen, wenn Großbritannien endlich die EU verlässt - verstehen Sie die?

Das wäre ein Fehler! Aber natürlich kann ich das auch verstehen, weil einige meiner Landsleute ganz bewusst sehr laut, grob und rücksichtslos sind. Manche arbeiten darauf hin, dass die Europäer Großbritannien so satthaben, dass sie uns sagen, wir sollen gehen. Aber bitte, hören Sie nicht auf die wenigen Krachmacher.

Schämen Sie sich für Johnson?

Er ist in Wahrheit eine komplexere Persönlichkeit, als die es manchmal den Anschein hat. Bei allen Themen mit Ausnahme des Brexit ist er ein Mainstreamkonservativer. Ich bedaure seine Haltung zum Brexit sehr. Seine eigene Geschichte, die multikulturell, multinational und liberaler geprägt ist, spricht doch für sich.

Unabhängig davon, ob Johnson Premier wird oder sein Rivale Jeremy Hunt: Was soll es für die zum vorliegenden Brexit-Vertrag mit der EU noch zu verhandeln geben?

Die EU hat klargemacht, dass sie nicht willens ist, den Austrittsvertrag neu zu verhandeln. Allerdings hat sie erklärt, dass sie bei der politischen Erklärung zur Ausgestaltung unserer künftigen Beziehung flexibel ist. Der Weg nach vorn ist, mehr darüber zu reden und dann zu den britischen Problemen durchzuarbeiten.

Welche Probleme?

Das Vereinigte Königreich muss zu seiner Pflicht stehen, die inner-irische Grenze offen zu halten. Ich will, dass das künftige Verhältnis zwischen dem Königreich und der EU generell von offenen Grenzen und wenig Reibung geprägt ist. Das wird uns auch im Umgang mit der nordirischen Grenze helfen.

Ist Ihr Land immer noch nicht auf die wirtschaftlichen Folgen eines ungeordneten Brexit vorbereitet?

Es gibt ein paar Dinge, auf die wir uns als Regierung nicht vorbereiten können. Wir können private Unternehmen dazu ermutigen, sich vorzubereiten, aber wir können sie nicht dazu zwingen. Außerdem liegen viele Determinanten zur EU-Grenze in Händen der Europäer. Wir werden unsererseits in Dover sicherstellen, dass es bei der Einfuhr von Waren keine Verzögerungen gibt. Am anderen Ufer hat Frankreich ebenfalls die Vorkehrungen getroffen, um problemlose Abläufe zu ermöglichen. Doch es wird letztlich eine politische Entscheidung, wie streng die Kontrollen in Calais ausfallen. Wir haben ja die Erfahrung an der Grenze zwischen Spanien und der Enklave Gibraltar: An einem guten Tag kommen Sie in wenigen Minuten von Spanien nach Gibraltar. An schlechten Tagen warten Sie sechs Stunden.

Warum glauben Sie, die Europäer könnten ihre Grenze zu Großbritannien als Waffe einsetzen?

Weil sie die Macht dazu haben. Eigentlich hoffe ich darauf, dass es zu einem harten Wettbewerb zwischen den europäischen Häfen kommt. Ich denke, die belgischen und niederländischen Häfen stellen sich auf heftige Konkurrenz um den Warenverkehr nach Großbritannien ein. Es wird innerhalb Europas einige Spannungen zwischen Handelsinteressen und politischen Interessen geben.

Viele Banken haben Mitarbeiter von London nach Paris oder Frankfurt versetzt. Fürchten Sie, dass sich der Exodus verschlimmert?

Es gab keinen Exodus. Einige Banken haben eine geringe Anzahl Beschäftigter in die EU geschickt. Ich sorge mich mehr darum, was nach ein oder zwei Jahren passiert, falls wir keine Vereinbarung mit der EU erzielen. In diesem Fall werden die europäischen Aufsichtsbehörden wahrscheinlich eine stärkere Risikokontrolle verlangen, und fordern, dass mehr Kapital in die EU verlagert wird.

Wollen Europas Steuerzahler diese Last wirklich schultern?

Ich bin übrigens überrascht, dass in Europa keine Debatte über das Risiko geführt wird, das für die Steuerzahler mit einem großen Finanzsektor einhergeht. Die britischen Steuerzahler mussten 2008 und 2009 Hilfen in Höhe von 180 Milliarden Pfund zuschießen, damit keine Banken kollabieren. Wollen Europas Steuerzahler diese Last wirklich schultern?

Die Abwanderung steht noch bevor?

Genau, das könnte in Zeitlupe ablaufen. Es ist aber nicht sicher, dass das ein Exodus von London nach Frankfurt und Paris wäre. Ebenso wahrscheinlich ist, dass die US-Banken ihre Leute zurück nach New York versetzen, um den europäischen Markt von dort aus zu bedienen.

Europas Wirtschaft erlebt einen Abschwung. Frankreich fordert Deutschland daher auf, mehr öffentliches Geld zu investieren, weil es finanziellen Spielraum hat. Stimmen Sie den Franzosen zu?

Die internationale Gemeinschaft macht viel Druck auf Länder, die den Spielraum haben, um die Weltwirtschaft zu stimulieren. Ich bin ein großer Fan von Budgetdisziplin. Aber ich bin sicher, dass Deutschland angesichts seiner Überschüsse im Außenhandel und im Etat eine Rolle als verantwortungsvolles Mitglied der Weltgemeinschaft spielen will. Dafür müsste Berlin natürlich die Gesetze zur Schuldenbremse ändern.

Ihr Land führt eine Digitalsteuer auf Internetkonzerne ein, wie Frankreich das gerade getan hat. Sind Sie bereit, Vergeltungsmaßnahmen der USA zu ertragen, wie sie Frankreich angedroht werden?

Wir sind uns der Risiken bewusst. Wir haben unsere Digitalsteuer etwas anders konzipiert als die französische. Wir meinen, dass sie mit unseren Verpflichtungen aus einem bilateralen Vertrag mit den USA vereinbar ist. Aber wir sind in unserer Steuerpolitik frei, so lange es keine internationale Vereinbarung zu Digitalsteuer gibt. Uns ist auch klar, dass die US-Behörden sich gegen uns wenden werden, falls ihr Vorgehen gegen Frankreich Erfolg hat.

In wenigen Tagen treten Sie zurück, nach neun Jahren, in denen Sie Mitglied der britischen Regierung waren. Was ist Ihre letzte Botschaft an Europa?

Unsere europäischen Werte - und hier schließe ich das Vereinigte Königreich mit ein - werden von unseren Feinden angegriffen. Von jenen, die unsere demokratischen Werte nicht teilen. Darüber hinaus fordern uns aber auch Länder heraus, die eigentlich an unserer Seite stehen, wenn es um Freihandel, offene Märkte und die Ablehnung von Protektionismus geht. Wir müssen diese Werte so entschieden verteidigen wie nie - und wir werden gestärkt daraus hervorgehen, wenn wir es gemeinsam tun. Der Anteil der europäischen Volkswirtschaften am Bruttosozialprodukt der gesamten Welt wird abnehmen. Wir können es uns nicht leisten, gespalten zu sein. Ich will, dass wir ein Mitglied der europäischen Familie und füreinander offen bleiben, selbst, wenn das Vereinigte Königreich die EU verlässt.

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