Muhammad Hanif ist bei dem Fabrikbrand gerade noch einmal mit dem Leben davon gekommen. Er konnte mit Kollegen eine Lüftungsanlage aus der Mauer der Fabrik Ali Enterprises in Karatschi brechen, sich durch das Loch zwängen und auf die Straße springen. Vielen Kollegen gelang die Flucht nicht, manche verbrannten bis zur Unkenntlichkeit. Bei dem schwersten Industrieunglück in der Geschichte Pakistans starben 259 Menschen, 50 wurden teils schwer verletzt. Mehr als sechs Jahre später hat die Katastrophe ein Nachspiel in Deutschland. Am Landgericht Dortmund findet an diesem Donnerstag die Hauptverhandlung von vier Betroffenen gegen den Textildiscounter Kik statt. Die vier Kläger - darunter Hanif - fordern je 30 000 Euro Schmerzensgeld von dem fünftgrößten Textilhändler Deutschlands.
Eine solche Klage ist neu. Sie berührt eine zentrale Frage der internationalen Arbeitsteilung: Können Auftraggeber für Missstände bei einem Zulieferer in einem anderen Land haften, mit dem sie eine gewöhnliche Lieferbeziehung unterhalten? Gäbe das Gericht den Klägern recht, dann dürften in vergleichbaren Situationen weitere Unternehmen in Regress genommen werden. Deswegen verfolgt die Wirtschaft diese Klage höchst aufmerksam.
Zu klären ist: Waren die Feuerschutzmaßnahmen bei Ali Enterprises unzureichend? Starben so viele Menschen, weil Fenster vergittert und Notausgänge versperrt waren und Rauchmelder fehlten? Und, wenn ja, trifft Kik als Auftraggeber eine Mitschuld? Die Tengelmann-Tochter hat den Jeanslieferanten bis zu drei Viertel ausgelastet. Deswegen ziehen die Klägeranwälte - vereinfacht gesagt - eine Parallele zur Scheinselbständigkeit von Beschäftigten. Sie sehen Kik in einer besonderen Verantwortung, weil das Unternehmen faktisch über die Arbeitsbedingungen in der Fabrik mitentschieden habe. Außerdem setzen die Juristen an dem "Code of Conduct" an, also jener freiwilligen Vereinbarung, die Auftraggeber heutzutage oft mit Lieferanten schließen, so auch in diesem Fall. Vereinbart werden dabei die Einhaltung sozialer und ökologischer Mindeststandards durch den Zulieferer. Weil es sich um eine freiwillige Vereinbarung handelt, hält Kik es für abwegig, daraus eine Haftung abzuleiten.
Aufwendig ist das Verfahren, weil es nach ausländischem Recht stattfindet. Das ist nicht ungewöhnlich bei zivilrechtlichen Verfahren. Möglich macht dies eine EU-Norm. Aber mit pakistanischem Recht kennt sich die 7. Zivilkammer am Landgericht Dortmund unter Vorsitz von Richter Heribert Beckers natürlich nicht aus, zumal es einer anderen Rechtssystematik folgt. Deswegen spielen Gutachten eine wichtige Rolle.
Ohne fremde Hilfe wäre die Klage nicht realisiert worden. Die Betroffenen verfügen nicht über die Mittel für so ein Verfahren. In Pakistan half ihnen der Gewerkschaftsdachverband NTUF bei der Organisation und Menschenrechtsanwälte vertraten die Opfer ehrenamtlich und erfolgreich vor heimischen Gerichten. Bei den Verhandlungen mit Kik über Entschädigungen vermittelte die Kampagne für saubere Kleidung, bei der Organisation der Klage spielen die Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional Rights (ECCHR) und die Hilfsorganisation Medico International eine zentrale Rolle.
In Deutschland gibt es in diesem Fall nicht die Möglichkeit einer Sammelklage. Deswegen gründeten die Betroffenen eine Vereinigung und bestimmten vier Kläger aus ihren Reihen - neben Hanif sind dies Saeeda Khaton, Muhammad Jabbir und Abdul Azis Khan Yousuf Zai, die alle drei jeweils einen Sohn verloren.