Abhängigkeit von Russland:Atomkraft hat in Deutschland keine Zukunft mehr

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Isar 2 bei Landshut in Bayern - eines der letzten drei noch laufenden Kernkraftwerke, die bis spätestens April abgeschaltet werden sollen. (Foto: Peter Widmann /imago images)

Weil die Angst vor Engpässen bei der Energieversorgung wächst, mehren sich Zweifel am Atomausstieg. Doch eine Verlängerung der Laufzeiten würde reihenweise neue Probleme schaffen.

Kommentar von Michael Bauchmüller

Der Krieg stellt alles auf den Kopf. Er macht Dinge möglich, die gestern noch als undenkbar galten: Waffenlieferungen in Konfliktgebiete, Milliardensummen für die Bundeswehr, eine Aussetzung des Zahlungsverkehrs. Und jetzt auch noch längere Laufzeiten für deutsche Atomkraftwerke?

Die Forderungen danach mehren sich, zuletzt auch von Bayerns Ministerpräsidenten Markus Söder. Nach dem Atomausstieg 2001, dem Wiedereinstieg 2010 und dem Wiederausstieg 2011 sind noch drei Atomkraftwerke in Betrieb, in weniger als zehn Monaten sollen sie endgültig vom Netz gehen. Es wäre das Ende einer Ära. Aber kann das Land sich das leisten, angesichts knapper und teurer Energie? Braucht es noch einmal einen Ausstieg aus dem Ausstieg? Der grüne Energieminister Robert Habeck will das "nicht ideologisch abwehren", die Betreiber prüfen. Dabei würden längere Laufzeiten keines der Probleme lösen, die sich für den nächsten Winter anbahnen. Sondern reihenweise neue schaffen.

Das beginnt, ganz unideologisch, bei einer Reihe praktischer Probleme. Kernkraftwerke brauchen Brennstoff. Solche Brennstoffe sind teuer, die Betreiber kalkulieren haarscharf damit. Und wie lange die Reaktoren noch laufen dürfen, das können sie ja schon seit 2011 im Atomgesetz nachlesen. Entsprechend haben sie ihre Reaktorkerne beladen. Sie bräuchten also jetzt neue Brennelemente, aber die gibt es nicht im Atom-Großhandel. Sie werden eigens angefertigt, genau berechnet für jeden einzelnen Reaktor. Das dauert - Experten veranschlagen die Lieferzeiten auf anderthalb Jahre und mehr. Engpässe drohen zu allem Überfluss auch bei den Behältern für den Transport.

Zum Jahresende droht allen Reaktoren ein monatelanger Stillstand

Auch das Personal wird zur knappen Ressource. In den Leitwarten der Kernkraftwerke zählt schon jetzt so mancher die Tage bis zum ersehnten Vorruhestand. Neue Jobs werden hier schon länger nicht mehr geschaffen. Aber jeder Reaktor hat seine Eigenheiten, das Schichtpersonal wird darauf geschult. Das macht es schwieriger, Personalengpässe auszugleichen.

Doch selbst wenn es gelänge, die Schichtpläne aufzustellen, selbst wenn sich der Brennstoff noch ein paar Monate strecken ließe - im nächsten Jahr drohte allen deutschen Reaktoren ein längerer Stillstand. Denn den Gefahren der Atomkraft begegnete der Gesetzgeber mit Kontrollen. Die aufwendigste davon ist die "periodische Sicherheitsüberprüfung", alle zehn Jahre steht sie an. In allen drei deutschen Reaktoren, Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2, ist diese Überprüfung längst überfällig, wegen einer Gnadenfrist des Atomgesetzes: In den drei Jahren vor der endgültigen Abschaltung konnte sie entfallen.

Wirft die Koalition vor lauter Pragmatismus nicht noch die nukleare Sicherheit über Bord, stünden derlei Prüfungen unweigerlich an. Revisionen würden die Kraftwerke auf Monate hin lahmlegen. Gut möglich auch, dass sich dabei der eine oder andere Bedarf an Nachrüstungen auftut. So oder so: Im nächsten Jahr werden die AKWs nur wenig Strom liefern können. Ihre Hilfe im Kampf gegen Engpässe oder hohe Strompreise liegt nahe null.

So folgenlos dürfte die Aktion für die Steuerzahler nicht ausgehen. Die Betreiber, die gestern noch jede Verlängerung von Laufzeiten kategorisch ablehnten, werden sich den ganzen Aufwand bezahlen lassen; in derlei Verhandlungen haben sie Erfahrung. Mittel, die beim Aufbau einer zukunftsfähigen Energieversorgung helfen könnten, flössen in Alttechnologien mit begrenzter Restlaufzeit. Das würde die Energie- und Klimapolitik dieser Koalition völlig auf den Kopf stellen. Und zwar ohne unmittelbaren Nutzen.

Nein, diese Idee muss keiner "ideologisch" abwehren, das geht auch mit blanker Vernunft. Die Vernunft etwa geböte es, jetzt wirklich alle Bremsen für den Ausbau erneuerbarer Energien zu lösen, inklusive der zugehörigen Netze und Speicher. Vernünftig wäre es, den Abschied von Gasheizungen zu forcieren und noch mehr Geld in die Sanierung von Gebäuden zu stecken. Und sinnvoll könnte es auch sein, das eine oder andere Kohlekraftwerk doch noch nicht einzumotten, und sei es nur für die ersten Monate des nächsten Jahres. Die Kernkraft aber braucht es nicht - auch nicht, nein: gerade nicht in Zeiten des Krieges.

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