Mode:Schräg gewickelt

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Asymmetrisch und gewickelt: ein aktueller Entwurf von Ottolinger. (Foto: Mark Peckmezian)

Ob Beyoncé, Cardi B oder Kim Kardashian: Sie alle tragen Kleidung des Labels Ottolinger. Doch wer steckt dahinter? Ein Atelierbesuch in Berlin-Neukölln.

Von Jan Kedves

Wenn A-Celebrities wie Kim Kardashian, Dua Lipa, Beyoncé und Cardi B Mode tragen, die in einem Hinterhof in Berlin-Neukölln entsteht, muss man sich das natürlich ansehen. Seit Kurzem hat die Ottolinger Berlin GmbH ihren neuen Sitz in Räumen gefunden, die zuvor von einer neuzeitlich-christlichen Kita genutzt wurden, im Schillerkiez beim Tempelhofer Feld. Die Wände riechen noch nach frischem Weiß, das Archiv mit den Kollektionen der vergangenen sechs Jahre stapelt sich in Kisten, daneben entstehen Schnitte, Prototypen werden genäht. Zuvor arbeiteten Cosima Gadient, 34, und Christa Bösch, 35, auf einem Drittel der Fläche in einem kleinen Ladenlokal in Moabit. Das platzte schon lange aus allen Nähten, der Umzug war also überfällig.

Ottolinger, das Label der beiden, ist mit einer sehr eigenen Mischung aus Digitalität, Organik und Asymmetrie erfolgreich geworden. Ihre Sonnenbrillen, Handtaschen und Pumps sehen aus, als seien sie fluide Grafik-Renderings aus einer Science-Fiction-Software und direkt aus dem 3-D-Drucker geflutscht. Ihre Oberteile hingegen wirken, als wären sie per Hand gestrickt oder geklöppelt worden und als dürfte die Trägerin selbst über die finale Form entscheiden: also wie sie sich das Teil um den Körper wickelt, knotet, drapiert oder es in Strängen baumeln lässt. "Weil die meisten Körper nicht ganz symmetrisch sind, unterstreichen wir mit den asymmetrischen Linien in unseren Kleidern die Schönheit der Unregelmäßigkeit", sagt Cosima Gadient beim Gang durchs Atelier. Eine prägnante Trademark ihres Labels sind zum Beispiel die schrägen Hosenställe. Sie sehen aus, als sei der Bund viel zu weit gewesen und als habe die Trägerin die linke Hälfte zum Knöpfen noch weit über die Mitte ziehen müssen - damit die Hose nicht rutscht.

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Die Ottolinger-Verkaufsrenner sind aktuell die hautengen Mesh-, also Netz-Teile. Wenn Kim Kardashian auf Instagram unter Palmen schreibt: "Bin im Paradies aufgewacht" und dazu ein Netz-Top von Ottolinger mit orange-gelbem Farbverlauf trägt, hagelt es 3,7 Millionen Herzchen ihrer Follower. Und wenn die Popsängerin Dua Lipa ihren 70 Millionen Instagram-Fans ihr neues Ottolinger-Trägerkleid zeigt, ist der Webshop des Labels wenige Stunden später leergekauft. Wenn man sie auf Dua Lipa anspricht, antwortet Christa Bösch kurz, trocken, sachlich: "Die muss ja auch was anziehen." Von dem digitalen Trubel um das Label ist im Atelier morgens um zehn Uhr jedenfalls kaum etwas zu merken.

Der Name stammt von den Nachbarn

Die zwei Designerinnen sind an diesem Morgen die Ersten vor Ort, nach und nach trudeln ihre Mitarbeiterinnen ein. Sie setzen auf ein kleines, internationales Team. Ihre Schnittmacherin kommt aus Korea, die Produktionsmanagerin ist Griechin. Ihre Kollektionen lassen sie in Fabriken in Polen, der Türkei, Griechenland und Italien produzieren. An einer Wand hängt der Produktionsplan, an einer anderen ein Moodboard, auf dem Marathon-Trinkwesten zu sehen sind, wie Läufer sie sich um die Brust schnallen. Daneben hängt ein Foto eines Yohji-Yamamoto-Kleids von 2015. Es ist intrikat aus Stoffstreifen geknotet, ohne Nähmaschine, ohne Reißverschluss. Technik-Faszination hier, Faszination für Handgemachtes da, und überall immer auch ein bisschen Medusa-Mythos.

Die Designerinnen Christa Bösch und Cosima Gadient (rechts) haben sich während des Studiums in Basel kennengelernt. (Foto: Peter Lindbergh Foundation (Courtesy Peter Lindbergh Foundation, Paris))

Gadient und Bösch kommen aus der Schweiz. Kennengelernt haben sie sich an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel, wo beide Modedesign studierten. Gadient machte ein Praktikum in Paris beim deutschen Modedesigner Bernhard Willhelm, Bösch ging als Praktikantin nach Antwerpen zu Walter Van Beirendonck. Um gemeinsam ihr eigenes Label zu starten, zogen sie 2015 nach Berlin. Auf den ungewöhnlichen Namen "Ottolinger" brachte sie der Zufall: Der stand auf dem Klingelschild der Nachbarn, die neben ihrem ersten, winzigen Atelier wohnten und mit denen sie sich einen Briefkasten teilten. Seitdem wandert der Name durch die Welt. "Die wissen, dass wir ihren Nachnamen behalten haben", sagt Gadient.

Junge Labels, die es von Berlin aus in die große Welt der Mode schaffen wollen, gibt es unzählige. Von den meisten hört man nie wieder etwas. Dass die Ottolinger-Kollektionen heute in London bei Selfridges hängen und von einigen der wichtigsten globalen Fashion-Webshops wie Ssense und LN-CC verkauft werden, liegt daran, dass Gadient und Bösch 2015 nicht nur ihr eigenes Label gründeten. Sondern gleichzeitig auch mit dem Consulting anfingen, mit dem Zuarbeiten und Auftragsdesign für andere. Ihr erster Kunde war gleich der Rapper Kanye West, der Ende 2015 unter dem Namen Yeezy mit eigenem Designstudio in Calabasas, Kalifornien, seinen großen Einstieg in die Mode vorbereitete - und sich von Bösch und Gadient dabei unterstützen ließ.

Von Kanye West gelernt: sich treu bleiben

"Da reingeworfen zu werden, war für uns anfangs relativ absurd, aber es wurde recht schnell normal", erinnert sich Gadient. Ohne es groß an die Glocke zu hängen oder von Yeezy genannt zu werden, steuerten sie einige Saisons lang Entwürfe zu Wests Luxus-Sportswear bei. Anfangs flogen sie dafür noch oft nach Kalifornien, später schickten sie ihre Entwürfe von Berlin aus. Was haben sie aus den Erfahrungen mit Kanye West gelernt? "Uns selbst treu zu bleiben", meint Bösch. "Das hat den Grundstein für unser Netzwerk gelegt", ergänzt Gadient, die auch keine Lust auf Celebrity-Gossip hat.

Das unabhängige, aber vergleichsweise kleine Modelabel könnte heute nicht professioneller aufgestellt sein: Ihr Netzwerk besteht aus der Sales-Agentur Tomorrow in London, die sich um Verkauf und Vertrieb kümmert und dies auch für andere hippe Labels tut, etwa für Martine Rose. Hinzu kommt die Pariser PR-Agentur Ritual Projects, die unter anderem auch für das gefeierte Berliner Label GmbH arbeitet. Zu ihrem Netzwerk gehört aber auch Kim Kardashian, bald die Ex-Frau von Kanye West. Mit ihr arbeiten Bösch und Gadient seit Yeezy-Zeiten immer wieder zusammen. Als Design-Consultants steuern sie aktuell zum Beispiel Entwürfe zu Kardashians Unterwäsche-Marke Skims bei.

Die "Schönheit der Unregelmäßigkeit" zelebrieren, das ist das Credo der Ottolinger-Designerinnen. (Foto: Mark Peckmezian)

Bösch und Gadient arbeiten auch als Ghost-Designerinnen, also das Mode-Äquivalent zum Ghostwriting in der Literatur, wenn auf dem Buch ein anderer Name steht als in der E-Mail, die das Manuskript geschickt hat. Etwa für einige chinesische Marken, deren Namen sie allerdings nicht nennen dürfen, so will es der Vertrag. Solche Nebenjobs tragen dazu bei, dass sich ihre Arbeit auch ganz ohne die ökonomische Power eines Fashion-Konglomerats wie LVMH oder Kering im Rücken rechnet.

Mit Gaultiers Streifenmuster haben sie gespielt

Eine ihrer Kollaborationen durften sie kürzlich dann aber ganz offiziell feiern - mit Jean Paul Gaultier. Nachdem der französische Designer sechs Jahre lang ausschließlich Haute Couture entworfen hatte, begann er im Mai wieder mit Ready-to-wear, also Konfektion. Dafür bat er Ottolinger um Remixe. "Wir lieben die verspielte Sexiness in Gaultiers Werk und wollten sie weiterführen", sagt Bösch. Sprich: Das ikonische Matrosen-Streifenmuster, das Gaultier immer wieder auf Oberteilen und auch auf dem Flakon seines "Le Male"-Dufts verwandt hat, ließen sie in verschiedene Richtungen verschwimmen. "Wir wollten sehen, wie unterschiedlich sich die Streifen um den Körper legen können", sagt Gadient. Die Muster, gedruckt auf hautenge Netz-Tops, -Leggings und -Schlauchkleider, sehen aus, als seien sie von einer 3-D-Unterwasser-Software animiert worden.

Getragen wurden die Kleider in der dazugehörigen Kampagne von Bella Hadid. Das Topmodel ist auch privat Fan des Labels und tut dies auch in den sozialen Medien kund. "Wenn es Social Media nicht gäbe, weiß ich nicht, ob wir jetzt alle hier wären", sagt Gadient. Damit meint sie nicht nur den verkaufsfördernden Effekt, den es hat, wenn ein Model wie Hadid, das etwa für Dior, Givenchy und Fendi arbeitet, die Aufmerksamkeit seiner Online-Gefolgschaft nach Berlin-Neukölln lenkt. Sondern gemeint ist auch, wie sie arbeiten: Weil es heute viel wichtiger ist, übers Netz verbunden zu sein, als an einem physischen Ort Präsenz zu zeigen, können sie von den vergleichsweise noch bezahlbaren Berliner Mieten profitieren, ohne von Paris, Mailand oder London abgehängt zu sein. "Der Informationsfluss ist heute extrem schnell, da spielt es keine Rolle mehr, wo man sitzt", sagt Gadient. "Wir könnten auch in den Schweizer Bergen sitzen."

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