Feinste Küchentradition:"Am schlimmsten finde ich Effekthascherei auf dem Teller"

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Wie viele Rezeptbände er besitzt, weiß Christian Grainer nicht genau. Insgesamt sind es aber wohl mehrere Tausend. (Foto: Patricia Bröhm)

Der bayerische Sternekoch Christian Grainer ist ein begeisterter Kochbuchsammler. Er besitzt mehrere tausend Bände. Die alten Klassiker mag er am liebsten.

Von Patricia Bröhm

"Nichts ist für eine Küche nachteiliger als schlechte Viktualien" - diesen höchst zeitgemäßen Satz schrieb Johann Rottenhöfer im Jahr 1858 ins Geleitwort seines ersten Kochbuchs. Christian Grainer zitiert den Leibkoch Ludwigs II. gern, und auch eines der spannendsten Gerichte, das er in seinem Bilderbuchgasthof im oberbayerischen Kirchdorf serviert, ist von Rottenhöfer inspiriert: das "Hechtenkraut". Die altbayerische Zubereitung für Hecht auf Sauerkraut ist heute fast völlig in Vergessenheit geraten. Außer eben in Kirchdorf, wo Grainer das eigentlich bodenständige Gericht im Sinne des von ihm verehrten Ludwig II. veredelt, indem er Pilzragout, Sauerkraut, Hechtfarce, rohe Hechtwürfel sowie Hummerschwänze und -butter auf den Teller schichtet und gratiniert.

Der "Kini" galt als Gourmet. Seinen Hecht angelte er am liebsten selber

"Rottenhöfer bereitete das Gericht natürlich nicht mit Hummer, sondern mit Flusskrebsen zu, die gab es damals in Bayern noch in Hülle und Fülle", erklärt der Küchenchef. Es war eines der Leibgerichte des "Kini", der für seine Gourmandise bekannt war. Den Hecht soll der passionierte Angler am liebsten selbst gefangen haben, und seine Vorliebe für das besonders zarte Hechtenkraut schonte seine schlechten Zähne, die nicht mehr so gut beißen konnten. Solche Geschichten bekommt man normalerweise im Gasthof Grainer als Dreingabe zum Essen serviert - wenn der Chef zum Erzählen aufgelegt ist. Den Stoff für sein im gepflegten Bairisch vorgetragenen Storytelling bezieht er, wie auch die Inspiration für das ein oder andere Gericht, aus seiner umfangreichen Kochbuchsammlung. Mehrere tausend Exemplare sollen es sein, wie viele genau weiß Christian Grainer nicht, weil die Bücher im ganzen weitläufigen Haus verstreut in diversen Regalen lagern, und gezählt hat er sie nicht.

Das aß schon König Ludwig gern: "Hechtenkraut" nach Johann Rottenhöfer. Der Sternekoch Christian Grainer hat das Gericht modernisiert. (Foto: Patricia Bröhm)

Doch weil Corona mit seinen Auflagen auch die dörflichste Gasthof-Idylle heimsucht, hat Grainer jetzt mehr Zeit zum Schmökern als im laufenden Betrieb. Für den Besuch hat er seine Lieblingsbücher auf einem Tisch in der leeren Gaststube aufgestapelt und blättert nun in einer Originalausgabe von Rottenhöfers Standardwerk des 19. Jahrhunderts mit dem etwas sperrigen Titel "Neue vollständige theoretisch-praktische Anweisung in der feinen Kochkunst mit besonderer Berücksichtigung der herrschaftlichen und bürgerlichen Küche". Viele weitere Schätze finden sich in den Stapeln. Zum Beispiel Katharina Pratos "Süddeutsche Küche" in einer Ausgabe von 1897 (erstmals erschienen 1858), ebenfalls ein Bestseller seiner Zeit - die namhafte Grazer Kochbuchautorin soll unter anderem die berühmte Floskel "Man nehme..." geprägt haben, ihr Rezept für Vanillekipferl gilt als wegweisend. Oder die berühmte "Physiologie des Geschmacks" des französischen Gastrosophen Brillat-Savarin in einer deutschen Übersetzung von 1913 aus dem Insel-Verlag.

Grainer sammelt seit mehr als 40 Jahren Kochbücher, die historischen Funde stammen von Flohmärkten, aus Antiquariaten oder von guten Freunden. August F. Winkler, der 2018 verstorbene legendäre österreichische Gastrojournalist, verehrte dem Koch sogar eine sorgsam restaurierte Ausgabe des 1828 veröffentlichten "Le Cuisinier Parisien", des bekanntesten Werks von Marie-Antoine Carême, der den französischen Außenminister Talleyrand bekochte und später, während der napoleonischen Kriege, auch Zar Alexander I.

Christian Grainer in seiner Küche. Der Lockdown gibt dem Spitzenkoch gerade viel Zeit, in alten Rezeptbänden zu schmökern. (Foto: privat)

Natürlich sind auch die neuesten Bücher vieler namhafter Köche unserer Zeit in Grainers Regalen zu finden - von Daniel Humm über Nils Henkel bis Yannick Alléno. Doch der Kirchdorfer Sammler und Koch bevorzugt die alten Werke: "Die sind ehrlicher", findet er. Die heutigen Kochbücher mit ihrer Hochglanzfotografie, dem perfekten Foodstyling der Gerichte und den Erfolgsgeschichten der Köche - all das interessiert ihn nicht: "Am schlimmsten finde ich Effekthascherei auf dem Teller", sagt Greiner. Lieber vertieft er sich in die um 1838 feinsäuberlich von Hand notierten Rezepte der "Wirths-Tochter" Anna Niederhauzler oder nimmt Klassiker des französischen Überkochs Escoffier zur Hand. "Da geht es nur um die Sache, das ist pure Inspiration für einen Koch, der die alten Gerichte in seinen eigenen Stil umsetzen kann." Wobei es schon einen Profi braucht, um sich etwa von Escoffiers Text zur Seezunge mit Sauce Mornay inspirieren zu lassen - Mengenangaben oder detaillierte Anleitungen fehlen darin völlig.

Die große französische Klassik prägte Grainers Küche (ein Michelin-Stern, 16 Gault&Millau-Punkte) ebenso wie seine bayerischen Wurzeln. Wenn er Langostino roh mariniert und mit bunten Tomaten, Burrata pur und als Schaum sowie Basilikumpesto serviert oder Rascasse (Drachenkopf) mit Kapern, Tapenade und fruchtig-intensiver Paprikasauce, dann liegt Kirchdorf geschmacklich am Mittelmeer. Die Frankophilie packte ihn schon als jungen Koch, als er das damals noch sehr bodenständige Wirtshaus seiner Familie Richtung Burgund oder Auvergne verließ. Prägend waren seine Monate in der legendären "Pyramide" in Vienne bei der Witwe des großen Fernand Point. Auch bei Hans Stucki in Basel und Karl Eschlböck am österreichischen Mondsee, beide damals mit zwei Sternen ausgezeichnet, lernte er in den 1980er-Jahren die Haute Cuisine. Zurück in Kirchdorf stilisierte er das seit 1572 in Besitz der Familie befindliche Gasthaus Grainer mit der sonnengelben Fassade langsam aber sicher zur Gourmetadresse um - zu "Christians Restaurant".

Seit 1572 in Familienbesitz: das Gasthaus Grainer in Kirchdorf bei München. (Foto: Picasa)

Obwohl oder vielleicht gerade weil seine größten kulinarischen Leitbilder schon lange das Zeitliche gesegnet haben, ist die Küche des 57-Jährigen heute auf der Höhe der Zeit. Denn was viele nun neue Regionalküche nennen, war für Grainer schon früh Programm: Kartoffeln kommen wie einst üblich vom benachbarten Bauern, Kräuter aus dem eigenen Garten, Steinpilze bringen Sammler in der Saison an die Küchentür. Nose to tail, das Mantra der Hipsterköche von Kopenhagen bis Kreuzberg, ist bei Grainer, wie auch in der altbayerischen Küche, ohnehin selbstverständlich. Ob Spanferkel aus der Landwirtschaft seiner Schwiegermutter oder Ochsen vom befreundeten Bio-Hof - Tiere nimmt er seit eh und je im Ganzen ab. Das Zerlegen ist für ihn, der einst nicht nur eine Koch-, sondern auch eine Metzgerlehre absolvierte, kein Problem.

Besonderes Glück haben die Gäste, wenn ein befreundeter Jäger ein Reh vorbeigebracht hat. Dann werden noch vor dem Rücken, unter Walnusskruste im Ofen zu zartester Perfektion gebraten und mit geschmeidigem Selleriepüree, schwarzen Walnüssen sowie Birnen-Preiselbeercoulis serviert, die Innereien aufgefahren. Für Liebhaber ein Fest: cremig schmelzendes Hirn in kross ausgebackener Panade mit Tomaten-Champignonsauce, Niere mit Dijon-Senfsauce und Kartöffelchen, Leber mit Quittensauce, Apfel und Rosinen. Und schließlich: Pfifferlingsgulasch mit Rehherz. Für solche raren Delikatessen nehmen Genießer gern die dreiviertelstündige Anfahrt aus München auf sich. Und das selbst mitten im Lockdown, denn auch auf der wöchentlich wechselnden To-go-Karte der Grainers findet sich neben Bouillabaisse mit Sauce Rouille oder gefüllter Wachtel mit Rahm-Speckwirsing auch mal gebackene Spanferkelzunge mit Sauce Tatar oder in Rotwein geschmortes Rinderherz mit Kartoffelpüree und Brokkoli.

Gekocht wird in Kirchdorf auf einem Holzofen von 1950

Sobald die Restaurants wieder öffnen dürfen, wird Kirchdorf auch wegen der zweiten Sammelleidenschaft der Grainers als Ziel interessant sein: der für hervorragende Weine. Nur Erstbesucher sind überrascht, wenn in der gemütlichen Gaststube mit Kachelofen als Weinkarte ein dickes Buch mit rund 1000 Positionen und vielen gereiften Bouteillen nahezu jeder Herkunft gereicht wird. Sie lagern in den Tiefen des Hauses, mitten durch den Weinkeller führt ein kleiner Quellwasserlauf, der für Feuchtigkeit und ganzjährig konstante Temperatur sorgt - ideale Bedingungen. Der Weinkeller ist das Feld von Christiane Grainer; ihre Weinbegleitungen verbinden Stimmigkeit mit Überraschung. Etwa wenn sie zur duftenden Consommé mit Raviolo vom Steinpilz und fruchtigem Orangenabrieb Sherry einschenkt oder einen gereiften Burgunder zum zwei Tage in Rotwein marinierten, dann angebratenen und schließlich zu großer Perfektion pochierten Hereford-Rinderfilet öffnet.

Solche Kunststücke gelingen dem Hausherrn auf einer wahren Rarität von Herd: Er ist Baujahr 1950 und wird noch mit Holz befeuert. Mit seinen Messing-Verzierungen könnte man ihn sich auch in der Küche König Ludwigs vorstellen, dessen Porträt an der in royalem Blau gestrichenen Küchenwand hängt. Warum man mit einer solchen Antiquität völlig andere, geschmacklich besonders tiefe Ergebnisse erzielt, wird klar, wenn man die zahlreiche Türen des behäbigen Ofens öffnet, hinter denen sich mal Holzscheite zum Nachlegen, mal Asche und mal glimmendes Feuer verbirgt, das verlockend knistert. "Das ist eine ganz andere Hitze", sagt Grainer, "die bringt unvergleichliche Aromatik in die Gerichte." Gekocht wird fast ausschließlich in Kupfertöpfen und -pfannen, weil kein anderes Material die Hitze so gut leite: "In Kupfertöpfen gelingen die größten Schmorgerichte." Beim Zuhören kommt einem die viel strapazierte und meist zur Marketingfloskel verkommene Vokabel von der "Authentizität" in den Sinn. Christian Grainer würde sie nie in den Mund nehmen. Hat er auch nicht nötig, er lebt sie ja.

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