Kochbücher:Liebeserklärung an das Kochbuch

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Engländer, Franzosen, Amerikaner und Australier - sie alle produzieren heute nonstop faszinierende Kochbücher. (Foto: SZ)

Eigentlich stehen alle Rezepte im Netz. Trotzdem erscheinen Jahr für Jahr unzählige neue Kochbücher. Zu Recht, findet unser Autor. Er kauft sie alle (also fast).

Von Max Scharnigg

Es ist ja so: Du musst heute keine anderen Kochbücher haben neben Google. Das Netz ist voll mit Rezepten, und selbst für die letzten Reste im Kühlschrank - Schrumpelkarotten, Joghurt, Sojasoße, Augentropfen - findet sich noch ein Gericht auf chefkoch.de, eines, das sogar von anderen schon nachgekocht wurde, mit drei Sternen versehen und dem obligatorischen Zusatz: "Schmeckt sogar meinen Kids!"

Es gibt Blogs, die für jede kulinarische Notsituation (Eltern kommen, spontane Gluten- und Laktoseintoleranz, Weihnachten & nix eingekauft und so weiter) gut fotografierte Hilfestellung geben. Es gibt Apps, die anbieten, mir für jeden Tag meines restlichen Lebens ein kohlenhydratarmes Gericht vorzuschlagen. Es gibt in den Bio-Stadtvierteln Kochhäuser, in denen die Gerichte schon in ihren Einzelteilen für den Späteinkauf bereitliegen, ein Kefirlimettenblatt, zwei Pimentkörner, 180 Gramm Hühnerbrust, 140 Gramm Wildreis, 520 Kalorien, und das Rezept dazu wird an der Kasse ausgedruckt.

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So ein Kochrezept ist eben auch nur Code, eine Gebrauchsanweisung, die uns vor dem Verhungern und dem nächsten Treffen mit dem abgekämpften Lieferando-Boten bewahren soll. Es ist nicht eigentlich etwas, das unbedingt zwischen zwei Buchdeckel gehört. Die Vorstellung, dass man bei akutem Hunger erst mal ein Kochbuch zur Hand nimmt, ist abwegig. Als würde man gegen Einsamkeit das Telefonbuch durchlesen. Nein, die digitale Vervielfältigung und Abrufbarkeit aller Rezepte dieser Welt zeugt nur davon, dass Menschen heute wie vor 150 Jahren das Verlangen haben, zu notieren, was gut war, und Bewährtes weiterzugeben. Und dafür eignen sich die neuen Verteilmedien hervorragend.

Trotzdem ging es dem analogen Kochbuch aus Falz und Papier noch nie so gut wie heute. Die Umsätze der Branche sind in den vergangenen Jahren kontinuierlich gestiegen, die Zahl der veröffentlichten und übersetzten Bücher auch. Ich kann die Statistik nachfühlen, denn ich kaufe sie alle (also fast). Sonst neige ich nicht zu extremistischem Verhalten, aber bei Kochbüchern verliere ich jedes Maß. Und die Lage wird immer unübersichtlicher. Engländer, Franzosen, Amerikaner und Australier produzieren heute nonstop faszinierende Kochbücher, mittlerweile sind auch ein paar großartige deutsche Exemplare darunter.

Schon allein, weil jeder zweite Foodblogger, jeder Sternekoch und jedes originelle Restaurant das eigene Buch heute als wichtiges Etappenziel sehen, geht der Kochbuchmarkt seit einigen Jahren auf wie ein an der Heizung vergessener Hefeteig. Gut so, denn bis jetzt steigt dabei nicht nur die Stückzahl, sondern auch das Niveau - ausgenommen die jährlichen Pflichtbücher der Fernsehköche. Aber sonst: Tolle Fotografen, innovatives Styling, literweise Herzblut, zentnerschwere Papierqualitäten, literarischer Mehrwert - wird alles heute in Kochbuchform dargereicht.

Fast hat man den Eindruck, es ist das einzige Genre, in dem sich die Verlage noch Opulenz trauen. Wichtig war dafür ein inhaltlicher Befreiungsschlag, der irgendwann in den Nullerjahren stattgefunden hat, wahrscheinlich maßgeblich eingeleitet durch Jamie Oliver und Foodblogs und ihren munter plaudernden Stil. Dank ihnen sind Kochbücher heute nicht mehr nur Rezeptschleudern und strenge Lehrbücher mit sterilem Serviervorschlag auf der Gegenseite, sondern im besten Fall Biografien, Reiseführer, Gegenwarts-Echolote, Lese- und Coffeetable-Books in einem.

Angeblich suchen viele Menschen nach dem einen perfekten Kochbuch für alles. Was für ein Unsinn! Um den herrlichen Wahnsinn des Essens auch nur annähernd abzubilden, muss eine Bibliothek her. Meine besteht aus Billy-Regalen und wächst nach jeder Reise um fünf neue Kochbücher, es ist unausweichlich. Die Neukäufe liegen bei mir immer in Griffweite zum Bett. Es ist so herrlich beruhigend, zum Einschlafen ein bisschen in Mimi Thorissons französischer Landhausküche zu blättern und ihre reizenden Kinder beim Verzehr von geschmorter Lammschulter zu betrachten. Oder mit Ronni Lundy auf Ess-Expedition durch die Appalachen zu gehen. Man liest diese Bücher mit Auge, Kopf und Zunge, aber ganz leicht, es ist ja immer eher ein Blättern. Und dann schläft man und träumt von Lorbeer und Basilikum. Ja, vielleicht ist das übler Eskapismus. Aber immerhin einer, der mich und meine Gästen irgendwann mal satt macht.

Irgendwann - denn ehrlich gesagt, benutze ich die Bücher selten in der Küche. Ein akut aufgeschlagenes Kochbuch beim Kochen macht mich in der Art nervös, in der mich die Anwesenheit meines Schlagzeuglehrers bei der Bandprobe nervös gemacht hätte. Ich glaube, dass man mit allen Sinnen und selbstbewusst kochen sollte. Überlegt wird vorher, am Herd dann geht man mit seiner Idee "all in". Und soll nicht ständig nachsehen, ob alles richtig läuft, wie lange das köcheln muss und wann die Bohnen dazukommen. Egal, wie gut das Rezept ist: Papier kocht nicht, und ein Buch guckt nicht in den Topf.

Gute Kochbücher sind universal stimulierend

Nein, der richtige Platz, um ein Kochbuch zu verkosten, ist der Sessel mit Blick auf die im Feinstaub simmernde Linde oder das Bett am Samstagmorgen. Dann sind die Synapsen empfänglich für das Augenessen und die Hirnfütterung. Es ist mir nie daran gelegen, ein Rezept für den Abend zu finden, es geht eher darum, einen Motor am Tuckern zu halten, der mich erst mal einkaufen, später die Küche zum tausendsten Mal aufräumen und noch mal später wieder anfangen lässt, Zwiebeln zu schneiden.

Gute Kochbücher sind universal stimulierend, sie machen Appetit aufs Leben und die ganzen Sachen, die man darin noch kochen und essen könnte. Manchmal gelingt das mit einem einzigen Rezept, mal mit der Schilderung der Genese eines Gerichts, oft auch nur mit einem Foto, einer vagen Sehnsucht nach Zitronen nach der letzten Seite. Die vernichtendste Kritik ist, wenn man eines durchblättern kann, ohne hängen zu bleiben. Gute Kochbücher müssen sorgfältig zubereitet sein wie gutes Essen, sie müssen sowohl verführen als auch satt machen, selbst wenn man nie eines ihrer Gerichte kocht.

Wie in jeder Droge lauert auch in jedem neuen Kochbuch ein Bündel an Versprechungen, egal ob es um Brotbacken in Österreich geht oder levantinische Vorspeisen. Nur das eine noch! Nur dieser einen Einladung noch folgen! Der Unterschied zu den Millionen Online-Rezepten besteht zum einen im satten Buchgewicht. Kochen ist Haptik, und ein Buch mit seinem schweren Papier und Seitengeraschel stellt ein ganz anderes Vertrauen her als ein geöffneter Link auf dem Tablet.

Zum anderen sind die Bücher heute wie Navigationsgeräte durch das Chaos der Ernährungsmöglichkeiten. Ich will nicht irgendeines der 569 Buttermilchpfannkuchen-Rezepte aus dem Netz. Ich will an das glauben, dass ich mir bei Deb Perelman erlesen habe. Die Zeit der großen Universalkochbücher ist deswegen vorbei, wenn man sich die Neuerscheinungen ansieht, kann es gar nicht spezialisiert und persönlich genug sein. Das Farmkochbuch von Molly Yeah, so privat wie ein Tagebuch. Oder "Sea and Smoke" von Blaine Wetzel, das Porträt eines eigenwilligen Genies, eher zufällig mit dem Stilmittel des Rezepts erzählt. Oder Magnus Nilssons neues "Nordic"-Kompendium, das Experimentalküche, Landschaftsfotografie und Essays zu einem verrückt schönen Büffet vereint. Ja, das ist alles Fachliteratur. Aber eine, die jeder verstehen kann, der ein bisschen Gaumenfantasie hat.

© SZ vom 04.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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