Essen und Trinken:Sie nennen ihn den Kräuterkönig

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Reto Raselli in seiner Trockenkammer. Hier ist er beim Wenden von Frauenmantel zu sehen, einer in den Alpen beheimateten Heilpflanze. (Foto: Benjamin Hofer / Raselli)

Reto Raselli lebt auf einem Schloss im letzten Zipfel der Schweiz - und baut seit fast 40 Jahren Kräuter an. Er war einer der ersten, die sich für Bioanbau entschieden haben. Heute beliefert er unter anderem eine weltbekannte Schweizer Bonbonfirma.

Von Julia Rothhaas

Eine steile Rampe führt zum Schloss des Königs, seine Hoheit fährt persönlich vor. An seinem Traktor hängt eine silberne Wanne, darin liegt ein großer Berg der kostbaren Güter, die sein Reich im Sommer hergibt: der Frauenmantel. Das Kraut mit den gelblich-grünen Blüten und den sternförmig gezähnten Blättern, in denen sich nachts der Tau sammelt, muss jetzt schnell ins Schloss. Denn in ein paar Tagen schon ist die Malve dran.

Sie nennen ihn den Kräuterkönig, nur nicht hier in Le Prese, da ist er für alle einfach der Reto. Über den königlichen Namen amüsiert er sich. Das sei eine Ehre, klar, aber der habe ja nichts mit ihm zu tun. Auf seiner Homepage wirbt er trotzdem damit. Doch eigentlich ist Reto Raselli Bauer und sein Schloss ein schlichter, beigefarbener Bau am Ortsende, in dem er seine Kräuter trocknet und verarbeitet.

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Seit fast vierzig Jahren baut er im Puschlav-Tal Kräuter an, dem letzten Zipfel der Schweiz, kurz hinter dem Bernina-Pass und vor der Grenze nach Italien. Er war einer der Ersten, die sich für Bioanbau entschieden haben. Bis heute werden Kräuter europaweit überwiegend konventionell angebaut.

Rund um das kleine Dorf am Lago di Poschiavo liegen seine Felder mit 28 verschiedenen Kräutern, darunter Brennnessel, Kamille, Schafgarbe, Goldrute, Salbei, Pfefferminze - und Kornblumen in Rosa und Blau. Allein dieser Umstand dürfte ihn nicht zum Adel befördert haben. Doch in der Schweiz gilt er als Pionier, weil er es geschafft hat, die Industrie von alternativen Anbaumethoden zu überzeugen. Zu seinen größten Kunden gehören die Coop-Supermärkte, die seine Kräuter als Tee verkaufen, und Ricola, die Firma mit dem bekannten Bonbon aus 13 Pflanzen.

"Warum soll man etwas Gesundes anbauen, um es dann zu vergiften?", sagt Reto Raselli. "Das macht doch überhaupt keinen Sinn!" Der 65-Jährige war von Anfang an fest davon überzeugt, dass Bio der einzig richtige Weg ist, um Nahrungsmittel herzustellen. "Von einem Kilo frischer Minze bleibt im getrockneten Zustand etwa ein Achtel übrig. Doch die Menge an verwendetem Pestizid nimmt nicht ab." Deswegen zuckt er nur mit den Schultern, als er davon erzählt, dass das Unkrautjäten 80 Prozent der Arbeit ausmacht. Kein Grund für ihn, deshalb einem industriellen Spritzplan zu folgen, um sich die Arbeit zu erleichtern. Er und seine zwölf Mitarbeiter laufen stattdessen von Mai bis Oktober über die Felder und ziehen an jedem Grün, das nicht erwünscht ist. Manchmal übernimmt die Maschine das Jäten, allerdings nur, wenn die mehrjährigen Setzlinge so gewachsen sind, dass die mechanische Hacke dabei nichts aus Versehen zerhäckselt.

Tiere, Heu, Getreide: Mit der Landwirtschaft begann er, als viele andere damit aufhörten. Nach einer Lehre als Automechaniker übernahm er den Hof seiner Eltern, seine Kumpels suchten sich lieber einen Job in einer Fabrik. Der junge Reto mit den langen Haaren, der auf dem Motorrad durch das beschauliche Graubündner Tal knatterte, wurde anfangs ausgelacht. Bio? So ein Unsinn! Inzwischen sind die Haare kurz, mit den buschigen Augenbrauen und dem ausgebleichten Schnauzer erinnert er ein bisschen an den Igel Mecki. Inzwischen wird auf 95 Prozent der gesamten Puschlaver Fläche biologisch gesät und gedüngt.

"Ohne Ricola hätten wir wohl nach ein paar Jahren aufgehört"

Als 1981 im italienischsprachigen Ort die Idee aufkam, es hier auf 1000 Meter Höhe doch mal mit Kräutern zu versuchen, war Raselli sofort dabei. Vier, fünf Sorten, mehr nicht, trial and error, anfangs konnte er nicht unterscheiden, welches Blatt zu welcher Pflanze gehört. Unkraut ist eben auch eine Frage der Betrachtung. Wenige Monate später wurde die damals noch kleine Firma Ricola auf die Bauern aufmerksam.

Die Kräuter aus dem Puschlav und anderen Regionen der Schweiz passten perfekt zum Bonbon; aus dem Ausland muss nur noch zugekauft werden, wenn die Bauern die 250 Tonnen Bedarf pro Jahr nicht decken können. "Ohne Ricola hätten wir wohl nach ein paar Jahren aufgehört", sagt Raselli. "Aber die bezahlen anständig, davon können wir übers Jahr leben."

35 Tonnen getrocknete Kräuter produziert er auf seinen knapp 15 Hektar jährlich, ein Drittel davon geht an Ricola. Auch Coop gehört zu seinen Abnehmern. Die Zentrale in Basel wurde neugierig, als der Kräuterfritze aus Graubünden um einen Termin bat. Mit Erfolg: Seit Ende der 90er-Jahre beliefert Raselli den Supermarktgiganten mit Orangenminze oder Ringelblume, die unter den firmeneigenen Labels Naturaplan und Pro Montagna weiterverkauft werden. Bio-Lebensmittel mögen weiterhin nur eine Nische sein, aber ohne sie kommt selbst der Discounter nicht mehr aus.

2016 wurden laut Forschungsinstitut für biologischen Landbau 6,7 Prozent der gesamten landwirtschaftlichen Nutzfläche in der EU von Öko-Betrieben genutzt. Dass es nicht mehr sind, führt Raselli auf die Politik zurück. "Biologisch anzubauen ist aufwendiger und geht nicht so schnell, aber ich glaube, dass vor allem Abhängigkeiten im Wege stehen und deshalb nicht mehr Bauern umstellen." Bayer, Monsanto, Syngenta und Co. bildeten eine zu starke Lobby. Er hingegen lasse einen Acker auch mal zwei, drei Jahre ruhen, gegen Raupen sprüht er ein Mittel auf Pflanzenbasis. Wenn doch mal eine mitgeerntet wird, bleibt sie eben drin. "Spätestens nach dem Trocknen ist sie ja nur noch ein Häufchen Staub."

Der Frauenmantel liegt nun in einer Kammer, die aussieht wie eine Mischung aus Pferdestall und Sauna. Hinter den schweren Holztüren werden die Blüten, Blätter und Stängel mithilfe eines Ventilators getrocknet. Wenn sie in der Hand zerbrechen, sind sie fertig. Meist reichen dafür zwei Tage. In der Mühle werden die einzelnen Bestandteile der Pflanze dann voneinander getrennt und der Ackerstaub ausgeklopft. Für den Industrieschnitt, der in großen Säcken an Ricola und Coop geht, wird die Pflanze auf zwei bis fünf Zentimeter geschnitten. Für den Teebeutel braucht man einen feineren Schnitt, damit Kamille oder Minze kein Loch in das Papier reißt.

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Raselli bringt eigene Tees und Kräutermischungen auf den Markt, die ihm mehr Marge bringen als der bloße Verkauf der Rohware an die Industrie. Einen Teil seiner losen Tees verpackt er in Pyramidenbeutel, die seit ein paar Jahren so angesagt sind, weil sie hübsch aussehen und dem Tee mehr Platz lassen, um sein Aroma in der Tasse zu entfalten. Nicht unbedingt Bio, oder? "Bis vor ein paar Jahren haben wir mit Nylon gearbeitet, aber jetzt sind die Säckchen aus Maisstärke. Die verrotten auf dem Kompost", sagt er. Die Kunden seien damit zufriedener, aber fragen müssen man sich schon, ob es ökologisch gesehen besser sei. "Denn ob der Mais gentechnisch verändert wurde, danach fragt niemand." Er weiß: Die Käufer können manchmal etwas kurzsichtig sein. Da wird die Bio-Gurke in Plastik eingeschweißt und dann doch beherzt gekauft. Ist ja bio. Oder?

Eigentlich müssten seine knapp 21 Fußballfelder Acker mehr hergeben als 35 Tonnen Kräuter, davon ist er überzeugt, aber irgendwas ist immer. "Das Wetter ist seit ein paar Jahren das größte Problem", sagt Raselli. Trockenheit und Regenperioden seien nichts Neues, aber nicht wochenlang, und so heftige Gewitter kannte man in der Gegend früher auch nicht. "Manchmal habe ich das Gefühl, dass der Donner die kleinen Pflanzen so erschreckt, dass sie sich wieder in den Boden zurückziehen."

In diesem Jahr hat er hundert Setzlinge Cannabis gekauft

Ein starker Regen kann die Ernte ruinieren, da zählt Mitte Juli jeder Tag. Zwischen Brennnessel und Goldraute ziehen drei junge Frauen und Männer große Körbe durch die Ackerfurchen, um pinke und blaue Kornblumen zu ernten, bevor die Sonne sie ausbleicht. Die Blüten pflücken sie per Hand, sie sind zu empfindlich für die Maschinen. Später sollen sie Salate und Desserts schmücken. "Kräuterarbeit ist hart, das kann man nur, wenn man jung ist." Die vielen älteren Frauen, die in seinem Schloss den Tee verpacken, hatten früher auch kleine Felder rund um Le Prese. Weil das Bücken irgendwann zu beschwerlich wurde, arbeiten sie jetzt für den Reto.

Seinen Hof will er bald seinem Neffen übergeben, dort gibt es Kühe, Ziegen, Hühner, Schweine, Esel. Von den Kräutern will er jedoch nicht lassen, auch wenn er nicht mehr so oft auf dem Feld steht wie früher. Sein Vorsatz: neugierig bleiben. In diesem Jahr hat er hundert Setzlinge Cannabis gekauft. Industriehanf mit nur einem Prozent THC, aber weil das der Renner auf dem Markt ist, will er nichts unversucht lassen. Kürzlich durfte er sogar in einem Werbespot für Ricola auftreten, gefilmt wurde in Le Prese. Ohne König geht eben nichts.

© SZ vom 21.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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