Lebensart:Wie das Essen im Gehen für alle ertragbar werden kann

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Bisher hatte das Essen im Gehen ein Imageproblem, es galt als Unart einer effizienzsuchenden Gesellschaft. Seit aber Restaurants geschlossen haben, tun es alle. Eine Neubewertung.

Von Berit Dießelkämper

Will ich mich erinnern, was ich die vergangene Woche zum Mittag gegessen habe, schaue ich auf meine Jacke. Und will ich mich erinnern, dass ich damit nicht allein bin, stelle ich mich zur besten Essenszeit in die Nähe einer Bäckerei- und Dönerfachverkäufer-Ansammlung. Dort finde ich sie: die stehenden und gehenden Esser unserer Zeit. Eine neue Spezies, die mit der Schließung der Restaurants und der Zulassung des Außer-Haus-Verkaufs erschienen ist und nun sich vollstopfend die Gehwege verstopft.

Was muss man da mit ansehen? Sie beugen sich mit ihren haltungsgeschädigten Home-Office-Körpern über ihre Dürüms. Versuchen, möglichst senkrecht in sie hineinzubeißen, indem sie ihre Münder von oben darüber stülpen - in der Hoffnung, dass die Schwerkraft so den Soßenschmock in das kleine Alufoliendepot unter dem Dürüm und nicht auf die Kleidung und Schuhe fließen lässt. Oder die an den Häuserwänden Stehenden, die mit einer Hand und weit gespreizten Fingern ihre Styroporboxen balancieren und mit der anderen Besteck bedienen - ohne zu viel Druck auszuüben und alles durcheinanderzuwerfen oder die Verpackung zu durchstechen. Zwischen ihren Schenkeln oder Schuhen klemmt das Getränk dazu. Die Aus-Bäckertüten-Esser sind weniger risikobereit. Ihnen ragen halbe Brezeln oder etwas ähnlich Trockenes in die Münder, und man trifft sie eher laufend und nicht stehend an, aber klar: Die Unfallwahrscheinlichkeit steigt exponentiell mit der Soßenmenge.

Es bleibt einem ja nichts anderes übrig

Es ist wirklich nicht schön, aber was bleibt einem gerade auch anderes übrig? Will man, nachdem man schon zu Hause gearbeitet, genetzwerkt und gesportelt hat (und das nur am Vormittag), nicht auch noch zu Hause essen, muss man raus. Darf man raus! Es ist eine der wenigen Möglichkeiten, Menschen, die nicht dem eigenen Haushalt zugeordnet sind, zu sehen und so etwas wie gesellschaftliche Rituale auszuüben. Nur leider ohne sich irgendwo reinsetzen zu können. Das essende Volk muss weiterziehen, denn erst ab 50 Metern Abstand ist es kein Vor-Ort-Verzehr mehr. Das ist die Prämisse, auf die sich infektionsschutzgesetzlich geeinigt wurde, und an die sich alle halten wollen - aus Angst, auch das könnte wieder verboten werden.

Was machen wir nun mit dem Essen im Gehen? Es zu verurteilen wäre zu einfach. Wie Lifestyle-Magazine darauf hinzuweisen, es sei ungesund (weil nicht bewusst und daher mehr gegessen wird) und nicht gut für die Verdauung (weil zu wenig gekaut, dafür aber viel Luft geschluckt wird), hilft nicht weiter. Genauso wenig wie die Wissenschaft. Die hat herausgefunden, dass Essen im Stehen oder Gehen weniger gut schmeckt (weil mehr Stress für den Körper). Das wiederum freut die Lifestyle-Magazine, die das als neues Diätgeheimnis verkaufen ("Durch diesen einfachen Trick isst du weniger").

Jetzt erst mal: Ruhe bewahren

Neue Corona-Phänomene brauchen neue Deutungen, das üben wir schließlich seit bald einem Jahr. Bisher hatte das Essen im Gehen ein Imageproblem: Es galt als Unart, Ausdruck einer nach Effizienz strebenden Gesellschaft, die nicht im Moment lebt und das Genießen verlernt hat. Das ist jetzt anders: Es sind nicht mehr nur gehetzte Bahncard-100-Besitzer, sondern auch Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die mitten auf dem Gehweg stehen und essen. Oder den Eingang zur U-Bahn oder zu Geschäften versperren, weil sie noch schnell aufessen müssen, bevor sie mit aufgezogener Maske hinunter- oder hineingehen können. Das nervt, aber das muss man akzeptieren. Es geht ja gerade nicht anders. Daher besser so tun, als sei das Essen im Gehen eine neue Kulturtechnik, die wir gerade erst erschließen. Eine weitere Problemlösekompetenz aus der Corona-Pandemie.

Da nun die notwendige Aufmerksamkeit für das Phänomen geschaffen wurde, braucht es nur noch gesamtgesellschaftliche Veränderungen, um das Essen im Gehen für alle ertragbar zu machen. Denn weiterhin ungeklärt ist: Wie isst man würdevoll im Gehen? Vielleicht könnten städtebauliche Maßnahmen helfen: eine Spur auf den Gehwegen nur für Essende. So wie man es damals auch für sogenannte Smartphone-Zombies machte, nur dass es jetzt eben Snombies - Snackende Zombies - sind, die sich langsam und unaufmerksam durch die Städte bewegen. Und vielleicht kann sich ja bald auch mal irgendein junges Start-up selbständig machen und Essschürzen für Erwachsene produzieren, die nicht so altmodisch kariert sind wie die wenigen, die es online für Senioren gibt. Bis dahin gilt dann einfach: Ruhe bewahren, Technik verfeinern und immer ausreichend Servietten mitnehmen.

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