Köche in Deutschland werden mit internationaler Aufmerksamkeit nicht gerade verwöhnt, eine große Ausnahme ist Dylan Watson-Brawn. Ein Kanadier, der schon vor knapp zehn Jahren, mit damals Anfang 20, in seiner WG-Küche in Berlin Wedding so kochte, dass Gäste aus Toronto oder Los Angeles anreisten, um bei ihm zu essen. Beim einzigen Nichtjapaner, der es je geschafft hatte, eine Ausbildung in einem japanischen Drei-Sterne-Haus zu absolvieren. Mit 24 eröffnete Watson-Brawn dann sein eigenes Lokal, das "Ernst". Dieser nerdige junge Koch faszinierte, weil er 25 bis 30 spontane Gänge servierte, die deutsche Sterneküche für altbacken und austauschbar hielt und über Landwirtschaft sprach wie andere über Kunstausstellungen. Wenn Restaurantkritiker in Kopenhagen oder New York sich nun nach der deutschen Gastroszene erkundigten, fragten sie nie nach den hochdekorierten Altmeistern, sie fragten: "Was passiert gerade im Ernst?"
Muss Berlin sich Sorgen machen, weil diese Ära nun zu Ende geht? Das Ernst, dessen Strahlkraft viel dazu beitrug, die einstige Boulettenmetropole als Reiseziel für Foodies zu etablieren, wird es jedenfalls nicht mehr lange geben, wie Dylan Watson-Brawn jetzt angekündigt hat. Ende 2024 will er das Lokal schließen. Zwar gebe es "verschiedene, zum Teil auch private Gründe dafür", so erklärte der Koch, allerdings sei ihm die Entscheidung erleichtert worden durch die Tatsache, dass "es gerade eine extrem schwierige Zeit ist, um in Deutschland ein Fine-Dining-Restaurant zu führen, vor allem in einer Stadt wie Berlin". Es laufe schlicht nicht mehr so gut, "wir sind zu oft nicht ausgebucht".
Es geht hier nicht um die Frage, ob die mit guten Restaurants gesegnete Hauptstadt künftig ein Gourmetlokal mehr oder weniger hat. Eher ist diese Schließung ein Symptom für eine größere Entwicklung. Als würde - noch leise - ein Stein in einen See fallen, der Kreise ziehen wird.
Schließlich ist hier die Rede von einem der auf einschlägigen Portalen bestgelisteten deutschen Lokale, das kürzlich renoviert wurde und einigermaßen glimpflich durch die Pandemie gesegelt ist. Von einem Restaurant, das gerade mal acht Plätze hat und nur an vier Tagen die Woche geöffnet. Und das soll nicht mehr zu füllen sein? In Berlin?
Tatsächlich war die Gastronomie an der Spree bis zum ersten Corona-Lockdown über Jahre von Erfolg zu Erfolg geeilt. War Berlin kulinarisch früher für Currywurst, Döner oder schlechtes Bier bekannt, mauserte es sich überraschend schnell zur deutschen Gourmethauptstadt, mit insgesamt 30 Michelin-Sternen, hippen Streetfood-Events, israelischen Party-Restaurants und Third-Coffee-Wave-Röstereien. Auf einmal hatte die Stadt Touristen, die einen der vielen Supperclubs buchten und zu Schlachtfesten, Naturwein-oder Gin-Tastings pilgerten. Gäste, die zwei Stunden in der Kälte anstanden, nur um in einem der neuen Brunchlokale Eggs Benedict zu essen.
Berlins Sternerestaurants laden plötzlich zum "Schweinebratendonnerstag"
Zuletzt aber klangen die Nachrichten aus Berlins besseren Küchen nüchterner, ja manches wirkte fast, als sei die Stadt dabei, sich auf eine Fine-Dining-Pause einzurichten. Das Restaurant "Nobelhart & Schmutzig" etwa, ein selbstbewusstes Zugpferd der Sternegastronomie und bekannt für regionale Avantgarde-Menüs und krachiges Storytelling, warb plötzlich per Newsletter für "Schnitzeltage" (30 Euro) oder lud zum "Spargelmittwoch". Und das Kreuzberger Zwei-Sterne-Restaurant "Horváth", eines der exklusivsten Häuser Berlins, bietet vier Gänge am Abend nun auch als "All-In"-Schnapper zu 129 Euro an, mit Sauerteigbrot, Wasserflatrate und Petit Fours.
Um Gäste an die Tische zu bekommen, lautet das Motto vielerorts: möglichst niedrigschwellig. "Die Stimmung ist sehr gedämpft", fasst Lorraine Haist zusammen, Berliner Foodautorin und als "Academy Chair" Vorsitzende der deutschen Jury für die "50 Best", die Rangliste der 50 besten Restaurants der Welt. "Egal mit wem du sprichst, überall gibt es zu viele Tage, an denen es nicht läuft." Wartelisten für Tische, früher am Wochenende in allen besseren Lokalen die Regel, gebe es kaum noch.
Die Ursachen sind vielfältig und die Lage unübersichtlich: Inflation, gestiegene Kosten bei sinkender Kaufkraft der Gäste, Personalknappheit, neue ethische Standards für Mitarbeiter, Corona-Nachwehen wie Rückzahlungen von Hilfen oder das drohende Ende der Mehrwertsteuer-Senkung für die Gastronomie. Entsprechend groß war die Verunsicherung auch bei der "Rolling Pin Convention" in dieser Woche in Berlin, dem Branchentreffen eines Fachmagazins mit Spitzenköchen aus ganz Deutschland und Österreich.
Eigentlich waren viele Restaurants optimistisch in die Zeit nach der Pandemie gestartet, manche hatten die Krise genutzt, sich neu aufzustellen, viele Gäste machten den Eindruck, sich wieder etwas gönnen zu wollen. "Bis letzten November waren wir brechend voll", erinnert sich Billy Wagner, Chef des Nobelhart & Schmutzig, aber ab Dezember seien die Reservierungen eingebrochen, "das war wie ein Cut".
Vor allem durch die Inflation sei plötzlich viel Unsicherheit da, sagt Wagner, "die Deutschen geben ihr Geld nicht mehr aus." Zugleich sei alles für das Lokal viel teurer geworden, "nehmen wir nur mal die Wäscherei, die hat vor anderthalb Jahren noch 2000 Euro im Monat gekostet, nun zahlen wir 2800." Wie Dylan Watson Brawn und andere Köche bemerkt Wagner außerdem an den ausbleibenden Reservierungen, dass speziell Berlin wegen Einsparungen im Flugverkehr und Streichung vieler Verbindungen für eine bestimmte Klientel schwerer erreichbar ist. Eine Veränderung, die man auch bei der Tourismusplattform "Visit Berlin" mit Sorge sieht: "Der Anteil der Anreisen per Flugzeug hat deutlich abgenommen", heißt es bei der Agentur, die im Auftrag der Stadt arbeitet, besonders "die vielen Gourmetrestaurants in Berlin sind aber auf internationale Gäste angewiesen".
Billy Wagner hat im Newsletter gerade die nächste Aktion angekündigt: "Schweinebratenmittwoch und Schweinebratendonnerstag". Es wird ein Luxusbraten, klar, Husumer Sattelschwein, über Stunden geschmort. Aber für ein Restaurant, das unter den Top 50 der Welt gelistet wird, sind solche Abende doch neu. "Man muss sich eben etwas einfallen lassen", sagt der Sternegastronom, der in der Szene als forsch und unverdrossen bekannt ist, solche Aktionen liefen recht gut. 45 Euro kostet das Soulfood-Gericht mit Kartoffeln und Grünkohl, das "wie bei Oma früher am Sonntag" serviert wird. Die Hoffnung sei, dass Gäste Vorspeise, Dessert und Wein zubestellen, so Wagner, und wenigstens bei 70 Euro pro Person landen.
Auch Dylan Watson-Brawn will erst einmal "zugänglicher" kochen, wie er es formuliert, in seinem Tagesrestaurant "Julius", direkt gegenüber. Mehr casual, weniger Fine Dining, was den Vorteil habe, dass er nicht jeden Tag am Herd stehen müsse und Zeit für neue Projekte habe. Die aktuelle Flaute, sagt er, diktiere vor allem den Anlass für die Schließung, aber irgendwann habe er ohnehin sich verändern wollen. Er will sich mehr mit Wein beschäftigen, zusätzlich eine kleine Bar eröffnen, wo es dann auch mal Gourmet-Abende geben könnte, sagt er. Im Ernst war er in sechs Jahren nur an fünf Öffnungstagen nicht da. Ein solches Restaurant ohne Karte, mit zwei Dutzend japanisch inspirierten Gängen, die im Team aus dem Tagesangebot heraus kreiert werden, könne man weder alleinlassen, noch delegieren oder wirtschaftlicher ausrichten, sagt Watson-Brawn. 250 Euro kostet das Menü, mehr könne man in Berlin nicht verlangen, von weniger könne er nicht leben. Der Standort möge gerade schwierig sein, sagt der Koch, er beobachtet aber insgesamt eine immer stärkere Polarisierung der Gastronomie: "Auf der einen Seite billiger oder bezahlbarer Mainstream, auf der anderen Catering für Superreiche, am besten mit Großinvestor, dazwischen gibt es immer weniger."
Tatsache ist, dass sich die Probleme der Sterneküche nicht auf Berlin beschränken. Wer etwa Tohru Nakamura - zwei Sterne, Koch des Jahres - im finanzstarken München zuhört, kann den Eindruck bekommen, das "Empty-Table-Syndrom" sei eine Krankheit, die sich gerade schleichend in die besseren Speisesäle der Republik frisst. Nakamuras Fine-Dining-Restaurant "Tohru" im Münchner Zentrum hat nur zwölf Tische, gegen Ende des Winters bemerkte der Koch beunruhigt, dass mal hier, mal da einer frei blieb; nun gibt es Abende unter der Woche, an denen 50 Prozent der Tische unbesetzt seien.
Neu ist, dass die Gastronomen offener darüber reden. Geheimniskrämerei um Reservierungen, Wartelisten-Geprotze und künstliche Verknappung sind vorbei. Auf Events höre er nun, der eine Kollege sei 20 Prozent unterbesetzt, die andere 30 Prozent, sagt Nakamura, was ihn auch beruhigt habe, weil "man ja immer erst panisch denkt, es könne daran liegen, wie man kocht". Doch auch in München seien eigentlich alle Spitzenküchen betroffen.
Tohru Nakamura weiß das, weil er sich schon dreimal mit den Sternekollegen getroffen hat, um zu beraten, "wie wir die Nachfrage wieder erhöhen können". Eine "Arbeitsgruppe" will er es noch nicht nennen, aber man müsse dranbleiben. Nach der Lehman-Pleite sind auf einen Schlag die Geschäftsessen weggebrochen, in der Pandemie ging oft gar nichts mehr, aber diese Krise sei komplexer, weil sie viele Ursachen habe, sagt Nakamura.
Sie stünden erst am Anfang, es sei mühsam, aber klar sei, dass man über vieles reden müsse: bessere Vernetzung unter den Köchen, besseres Marketing, bessere Lobbyarbeit, Einbindung der Politik. Auch die Frage, ob der Markt nach langen Jahren des Wachstums inzwischen mit Sterneküchen gesättigt ist, und wie man damit umgeht, sei nötig, findet Nakamura.
Es gibt kleinere Stellschrauben, wie das Menü für Gäste unter 35, das gerade im "Tantris" eingeführt wurde, um endlich ein jüngeres Publikum an die Tische zu holen. Und größere Fragen: "Welchen Stellenwert hat Fine Dining heute?" Viel zu tun also mal wieder. Für Tohru Nakamura steht aber auch fest, dass "wir diese Herausforderung meistern". Bis dahin gilt die goldene Regel der Gastronomie: Optimismus gehört zum Geschäftsmodell.