Essen und Trinken:Ein Restaurant als Provokation

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Dylan Watson-Brawn, der "Koch des Jahres", mit dem früheren Sommelier Christoph Geyler und Co-Chef Spencer Christenson (von links). (Foto: Staffan Sundstrøm)
  • Als das Restaurant "Ernst" im Berliner Stadtteil Wedding vor anderthalb Jahren eröffnete, war es sofort bekannt.
  • Kein anderes deutsches Lokal genießt derzeit mehr internationale Aufmerksamkeit.
  • Ein Twen aus dem kanadischen Vancouver läutet dort also womöglich gerade den Paradigmenwechsel am Herd ein.

Von Marten Rolff, Berlin

Es gibt Gründe, dieses Restaurant als Provokation zu begreifen. Und streng genommen beginnt die schon mit seiner Lage in einer abseitigen Nebenstraße im Stadtteil Wedding, für Berlin-Besucher immer noch ein seltenes Ziel, von Gourmettouristen ganz zu schweigen. Ein Schild gibt es nicht. Frischer grauer Putz rahmt ein Schaufenster, hinter dem die Gardinen zugezogen sind. Gäste glauben erst, dass sie richtig sind, wenn sie im düsteren Eingang endlich die Klingel entdecken, auf der in kleinen Lettern der Name "Ernst" graviert ist.

Manche Besucher werden das lässig finden oder gar aufregend klandestin. Andere werden die Achseln zucken und "typisch Berlin" denken. Doch gemessen an der Aufmerksamkeit, die dieses Restaurant im vergangenen Jahr erregt hat, wirkt seine Unauffälligkeit fast schon passiv aggressiv.

Ohnehin dürften viele Gäste sich glücklich schätzen, es bis hier geschafft zu haben. Es gibt nur zwölf Plätze, die auf Monate ausgebucht sind. Als das Ernst vor anderthalb Jahren eröffnete, war es sofort bekannt. Zuvor hatte es als Privatlokal bestanden, für sechs Gäste in einer WG-Küche - und trotzdem schon Besucher aus dem Ausland angezogen. Im Sommer wählten die Kritiker des einflussreichen New Yorker Restaurant-Portals "Opinonated About Dining" das Ernst dann unter die Top Hundert in Europa, auf Platz 62, kein anderes deutsches Lokal genießt derzeit mehr internationale Aufmerksamkeit. Die 25 Gänge werden am Tresen serviert. Der Koch heißt Dylan Watson-Brawn, ist Kanadier, erst 25 Jahre alt, landete vor sechs Jahren eher zufällig in Berlin und spricht nur Englisch. Was alles kein Problem sein sollte, solange deutsche Spitzenköche es mit ihrem Ego vereinbaren können, dass ein Twen aus Vancouver womöglich gerade den Paradigmenwechsel am Herd einläutet.

Aperitif oder Hauptgericht
:Mini-Flammkuchen mit Trauben, Spitzkohl und Speck

Knusprig mit frischer Note, als Aperitif oder Hauptmahlzeit - und am besten in netter Gesellschaft.

"Die Gerichte in deutschen Drei-Sterne-Restaurants sind alle so verwechselbar."

Dylan Watson-Brawn hält die deutsche Spitzenküche für seltsam artifiziell. Er sagt Sätze wie: "Es fehlt hier an Handschrift, an einer erkennbaren Stilrichtung." Oder: "Gäbe es ein Bilderrätsel mit der Aufgabe, jedes der abgebildeten Gerichte einem deutschen Drei-Sterne-Restaurant zuzuordnen, wäre das kaum zu lösen, weil die Gerichte alle so verwechselbar sind." Er klingt nicht überheblich. Eher wie ein nerdiger Forensiker, der einen eindeutigen Tatort analysiert. Dann fügt er hinzu, dass er nicht beabsichtige, kulinarische Debatten auszulösen. "Wir leben hier im Restaurant in unserer eigenen kleinen Welt und machen uns um andere Dinge kaum Gedanken. Vielleicht ist das ein Grund für unseren Erfolg."

Aber auch ohne diese Sätze würde er polarisieren. Einige finden, er koche gar nicht richtig, weil sein von der japanischen Kaiseki-Tradition beeinflusster Stil so schlicht ist und mit so wenigen Zutaten auszukommen scheint. Im Ernst gibt es Gänge, bei denen nur ein junger gedämpfter Brokkolistrunk mit Sonnenblumkernpaste auf dem Teller liegt. Oder ein Klecks Kürbismus mit Kernöl. Andere bejubeln das als unverkünstelten Fokus auf Qualität: So viel frischer Wind aus nur einem Restaurant! Etwas Besseres habe der oft gravitätischen und im Ausland kaum bekannten deutschen Spitzenküche gar nicht passieren können!

Wer den Kanadier morgens zum Interview in seiner Küche trifft, meint nicht, Berlins meistumraunten Koch vor sich zu haben. Watson-Brawn ist eine halbe Stunde zu spät. Er trägt ein graues Sweatshirt zur dunklen Gummibundhose, sein Gang ist eine meditative Mischung aus schlurfend und federnd. Doch wo es um die Sache geht, ist er hoch konzentriert. Seine leise Stimme bekommt dann eine ernste Dringlichkeit, so als sei er ständig auf der Suche nach dem Kern der Dinge. Von der Ernsthaftigkeit auf den Restaurantnamen zu schließen, verbietet sich aber: "Ernst" ist der zweite Name eines dänischen Freundes von Watson-Brawn und seinem kanadischen Herdpartner Spencer Christenson. "Er hat keine Bedeutung, wir brauchten einen Namen, der auf Deutsch und Englisch funktioniert."

Doch was genau machen sie nun anders im Ernst? Warum fasziniert dieses Restaurant so viele Gäste und Gastrokritiker?

Es gibt nur zwölf Plätze, die auf Monate ausgebucht sind, wobei das Menü natürlich im Voraus zu zahlen ist. (Foto: Staffan Sundstrøm)

Zunächst einmal versuchen nur sehr wenige Köche, ihren Produkten so nahe zu kommen wie er. Das mag alltäglich klingen, schließlich predigt jeder zweite Gasthof seit Jahrzehnten, dass dort alles gut, bio und regional sei und man alle Bauern kenne. Watson-Brawns Küche aber zelebriert einen regelrechten Produktfetischismus. Wo viele andere Köche aufhören, fängt der Kanadier überhaupt erst an. "Absolut jedes Detail ist wichtig und sei es noch so klein", erklärt er. Die Zusammensetzung des Bodens, das Saatgut, die Termine von Aussaat, Düngung und Ernte, die Sonneneinstrahlung, die Zahl der Regentage, der Pflanzenschnitt, der Früchtetransport.

Seinen Glauben an strikte Mikrosaisonalität und an ein symbiotisches Verhältnis zu Produzenten hat Watson-Brawn aus Japan mitgebracht, wo manche Köche ihre Karriere einem einzigen Produkt widmen. Mit 17 wurde er - als erster Nichtjapaner - zur Lehre im legendären Tokioter Drei-Sterne-Restaurant "Nihonryori RyuGin" zugelassen. Später arbeitete er im Kopenhagener "Noma" und im New Yorker "Eleven Madison Park". Was er in Japan gelernt habe, sagt Watson-Brawn, bedeute letztendlich, dass die Bedeutung des Kochs immer mehr hinter der des Produzenten zurücktritt.

Es mag sein, dass man diese Dinge ähnlich schon anderswo gehört hat. Manche werden diesen Ansatz bewusstseinserweiternd finden, andere übertrieben oder gar albern, und mancher Kochkollege sprach von "Hype". Tatsache ist aber auch, dass andere Köche mit vermeintlich simplen Gerichten selten solche Begeisterung auslösen. Bereits vor zwei Jahren schrieb eine Berliner Gastrokritikerin über einen Pfirsich, den Watson-Brawn ohne Kühlung aus Sizilien importiert und zu Hause in seiner Ikeaküche im Salzmantel gegart hatte: "Es ist ein perfektes Produkt, das mit so viel Gefühl und Verständnis für sein Wesen und seine Herkunft behandelt wurde, dass es im Mund förmlich weiterlebt."

Gerichte wie „Zwiebeln in Fenchelsud“ sind nur vermeintlich einfach. Die Zwiebeln wurden getrocknet, auf Birkenholz gegrillt und in Molke gedämpft. (Foto: Staffan Sundstrøm)

Für ein Menü im Ernst hat all das natürlich Konsequenzen. Als Gast solle man so eintreffen, dass ein reibungsloser Ablauf garantiert ist, erklärt der Sommelier vorab, "noch nicht um 19.15 Uhr, aber bitte um 19.20 Uhr ". Die fünf Köche bereiten jedes Gericht à la minute für alle gemeinsam zu, vor den Augen der Gäste, im maximal minimalistischen Ambiente, kein Bild lenkt von den Speisen ab. Die Tagesprodukte werden mit vorbereiteten Grundprodukten kombiniert, Kombu, Öle, Ziegenbutter. Es gibt Anweisungen wie: "Bitte sofort essen", jetzt sei der perfekte Moment! Das kann ins Humorlose kippen, muss aber nicht falsch sein, wenn das Essen nicht kalt werden soll.

Mit den Erklärungen ist es zweischneidig. Es befremdet, wenn der Souschef den Tongehalt der Erde erläutert, in dem der Brokkoli gewachsen ist, der Brokkoli dann aber nur nach Brokkoli schmeckt. Bei anderen Tellern funktionieren sie dagegen. Die Himbeeren etwa gehen eine geradezu betörende Allianz mit gereiftem Quark und Tomatenöl ein; da ist es interessant, dass diese unverschämt perfekte Süße-Säure-Balance auch dadurch entsteht, dass die Tomaten bewusst wenig gewässert wurden.

In zügiger Abfolge werden 25, oft extrem reduzierte Gänge serviert, so entsteht ein Fluss, bei dem man sich stark auf das Essen konzentriert. Fränkische Linda im Heumantel, ihre hohe Mineralität wurde durch kurzes Dämpfen betont, zu Krebsbutter und Sauerampfer. Brioche, knusprig und zart, mit Noto-Mandel und Clotted Cream. Eine vollkommene Baby-Aubergine in zartem Dinkeltempura mit Buchweizenmiso. In Aalfett geröstetes Entenherz mit Apfel und Traube. Der Tischnachbar erzählt, er esse zum zehnten Mal hier, auch weil ihn das Spontane, das Experimentelle reize, "die finden jedes Mal etwas mehr ihren Stil."

Ist ein Gericht noch zu "kantig", zu unausgereift, dann sei das einkalkuliert, sagt Dylan Watson-Brawn. Für ihn geht es beim Kochen nicht um Perfektion, sondern um Entwicklung, um den Willen zur ständigen Verbesserung, darum, immer mehr Tiefe zu erreichen. "Finden die Gäste ein Gericht perfekt, fliegt es von der Karte", erklärt er. Das würde Stillstand, Langeweile, die Abkehr vom Arbeitsauftrag bedeuten. "Veränderung ist die einzige Konstante bei uns."

Nach Berlin kam er eigentlich, um Freunde zu besuchen

So läuft auch die Arbeit mit den Produzenten. Die Köche verbringen viel Zeit damit, über Land zu fahren, Leute zu treffen, die ihren Arbeitsstil mögen. "Ich war sicher in mehr Dörfern in Brandenburg und Mecklenburg als die meisten Deutschen", erzählt Watson-Brawn. Sie haben Fischern die schonende japanische Tötungsmethode "Ikejime" beigebracht, mit einer Geflügelzüchterin monatelang an der richtigen Getreidemischung für das Futter herumexperimentiert. "Es gibt unendlich viele Variablen, die am Ende die Beschaffenheit eines Produkts ausmachen. Mein einziger Job als Koch ist es, diese Komplexität zu verstehen und sie am Ende einfach wirken zu lassen."

Sich vertiefen und sehen, was passiert, wenn man noch tiefer gräbt, so war es auch, als er mit 14 mit dem Kochen begann. Sein Vater ist Zahnarzt, seine Mutter Buchhalterin, den Anstoß gab seine Großmutter, die in der Kochbuchabteilung einer Buchhandlung in Montreal arbeitete und ihm Bücher schickte, Ferran Adrià, Alain Ducasse ... Er vertiefte sich so, dass er "viel in der Schule verpasste, aber für meine Eltern war das in Ordnung". Nach Berlin kam er eigentlich, um Freunde zu besuchen und eine Auszeit vom Kochen zu nehmen, "nun habe ich eine deutsche Freundin und ein Restaurant." Überflüssig zu fragen, was er jetzt mit dem Erfolg anfangen will. Es wird sich ergeben.

© SZ vom 19.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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