Design:Plastik = Gift?

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Palais de Chaillot, Paris, im September 1967. (Foto: Gamma-Keystone/Getty Images)

Plastik galt mal als Werkstoff der Zukunft, dann schlugen Konsumkritiker und Allergiker Alarm. Das brachte uns zum Beispiel Vibratoren aus geöltem Ahorn. Höchste Zeit für eine Rehabilitierung.

Von Gerhard Matzig

Matthias Korff nähert sich der Baustellenplane. Wie auf Zehenspitzen und voller Abscheu. Schließlich zupft der birkenbaumdünne 47-Jährige so vorsichtig an der Problemplane, sie besteht aus Kunststoff, als hantiere er mit radioaktiv verseuchtem Sondermüll. Der Reporter wird aufgefordert: "Lesen Sie mal. Was steht da?" Man liest also in Erwartung einer apokalyptischen Abgründigkeit: "Mineralfasern". Hm. Und?

Übrigens befindet man sich auf einer Baustelle in Hamburg. Die gelben, wattehaft weichen Platten aus Mineralfasern (Kunststoff), die für Wärme-, Schall- oder Brandschutz sorgen, gehören wie plärrende Radios (Kunststoff) und Sicherheitsschuhe mit Elastoplaste-Sohlen (Kunststoff) zum natürlichen Baustellen-Inventar. Natürlich würde Korff das Wort "natürlich" in diesem Zusammenhang gern weiträumig umfahren.

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"Das ist reines Gift", sagt er mit Blick auf das Mineralfaser-Unheil, "Kunststoff, Plastikschrott, krebserzeugend." Und das ist der Moment. Der Moment, da sich die Begriffe "Kunststoff" und "Gift" wie in einer Gleichung des Schreckens begegnen.

Hatte nicht der französische Philosoph Roland Barthes in seiner Schrift über die "Mythen des Alltags" 1957 den Kunststoff als "magische Materie" gefeiert? Für ihn war Plastik jener Stoff, den die Alchemisten ersehnt hatten. Der Stoff, aus dem die Träume sind. Barthes huldigte der ersten Materie, "die zur Alltäglichkeit bereit ist". Formbar, wandelbar und unendlich.

Vom Heilsversprechen zum Krankheitserreger

Das Plastik erschien dem 20. Jahrhundert als Utopie einer besseren Welt. Nach Bronze- und Steinzeit war die Plastik-Ära angebrochen - die Zeit des Pop, der Mode und der vielen buntbilligen Dinge. Die Plastikzeit ist die Zeit der Machbarkeit. Des Habenwollens und -könnens. Anything goes: Das ist die Hymne des Artifiziellen als Kampfansage auf die als antagonistisch empfundene Natur. Plastik ist der Stoff, aus dem das Anthropozän geformt ist.

Und jetzt das: "reines Gift".

Eben.

Es gibt kein anderes Material, das eine derartige Karriere hingelegt hat: vom Heilsversprechen zum Krankheitserreger.

Korff, sollte man noch anmerken, ist ein allergieanfälliger, gesundheitsbewusster Mensch. Kein Missionar fundamentalökologischer Birkenstockhaftigkeit. Einfach ein vernünftiger Mensch mit Sinn für das, was man eine "gesunde Umwelt" nennt. Das ist zu Recht ein Sehnsuchtsort - nicht zuletzt deshalb, weil die Koordinaten einer tatsächlich ganz gesunden Umwelt dem begrifflichen Boom zum Trotz nach wie vor eher geheim sind. Man würde dort ja auch gerne mal vorbeischauen.

Als Allergiker reagiert Korff unter anderem auf sogenannte Weichmacher. Und auf bestimmte Kleber. Auf manche Kunststoffe. Sozusagen (auch wenn ein Unterschied besteht zwischen Kunststoff und Plastik): auf den verdammten Plastikschrott. Mittlerweile ist Korff Projektentwickler für Häuser "in ökologischer Massivholzbauweise". In seinem "Woodcube", entstanden als Revolte gegen den Mineralfaserwahnsinn um ihn herum vor zwei Jahren, wohnt Korff nun ganz oben. Mit Weitblick. Und ohne Plastik.

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Dem amerikanischen Schriftsteller Norman Mailer hätte das gefallen. Im Esquire schrieb er: "Ich glaube, es gibt im Universum eine böse Kraft... sie ist aus Plastik."

Korffs Massivholz-Glücksversprechen, läuft auch deshalb gut, weil alles, was irgendwie "natürlich" erscheint, leicht vermarktbar ist im retrospektiven Zeitalter von Klimawandel und Konsumkritik. Als Mailer die dunkle Seite der Macht in der Plastikspielfigur eines Darth Vader voraussah, war er Pionier. Erst danach wurde die Abscheu vor Kunststoffen aller Art mehrheitsfähig - und zugleich zum Motor eines neuen Marktes: Bambus-Möbel, Lehm-Häuser, Holzspielzeug - Dinge mit Zertifikat.

Der Eco-Style ist eine plastikfreie Zone. "Nachhaltigkeit" ist das Wort des Jahrhunderts. Öko-Test hat sogar Vibratoren getestet. Der "Lover Vib" konnte punkten: "besteht aus geöltem Ahornholz". Geöltes Ahornholz kommt immer gut. Konsequenterweise ist alles, was mit Kunststoff zu tun hat, des Teufels. Böse. Peinlich. Aus Holz gefertigt, werden dagegen auch die Lover Vibs gesellschaftsfähig. Vielleicht gibt es sie irgendwann auch in Douglasie, geschroppt.

"Jute statt Plastik": Das war einmal das Credo sehr seltsamer Menschen in sehr lilafarbigen Latzhosen. Heute ist das Kunststoff-Bashing in der Mitte angekommen, also in der Bild-Zeitung. Kürzlich wurde dort die Plastiktüte gegeißelt: " ... verdreckt unsere Meere und wird zur Gefahr für das Ökosystem". Stimmt ja auch.

Wurden in den Nachkriegsjahren weltweit noch zwei Millionen Tonnen Kunststoff pro Jahr produziert, so waren es 2014 311 Millionen. Der Dübel in der Wand ist aus Kunststoff, das Armaturenbrett im Auto ebenso - auch wenn es behauptet, ein "Brett" zu sein. Aus Kunststoff sind Prothesen, Handys, Kaugummis und Kassenzettel, deren Thermopapier oft mit BPA, Bisphenol A, beschichtet ist. Der Kassenzettel ist Nummer 15 der im Vegan Blatt veröffentlichten "15 Dinge aus Plastik, die Du wirklich meiden solltest". In der gerade überstandenen Fastenzeit angesagt: das "Plastikfasten". Früher mied man Alkohol oder Schokolade - jetzt geht es um Thermoplaste. Wer im Glockenbachviertel in München mit einer Plastiktüte aus dem Supermarkt kommt, macht sich ungefähr so beliebt wie mit einem IS-Tattoo auf der Stirn.

Ohne Plastik wäre die Gegenwart ärmer

Dabei wäre es vielleicht an der Zeit zu differenzieren. Etwa zwischen dem Terror dort, wo bald jede einzelne Cocktailtomate kunststoffummantelt und verplastifiziert sein wird, und jenen Gegenständen aus modernen Kunststoffen, die möglicherweise nützlich oder schön (gerne beides) sind. Die auch deshalb nachhaltig sind, weil qualitativ so beschaffen, dass man sie eben nicht am nächsten Samstag zum Wertstoffhof karrt. Es spricht eigentlich nichts dagegen, den Panton Chair, entworfen 1960 vom dänischen Designer Verner Panton, als ersten Vollkunststoff-Stuhl der Welt zu vererben wie ein geliebtes Biedermeiersofa.

Ohne die Kulturgeschichte des Plastik, die im Mittelalter mit der Herstellung von frühen Kunstharzen beginnt, wäre unsere Gegenwart ärmer. Der Kunststoff "Galalith" wurde schon am Ende des 19. Jahrhunderts produziert - und die bekannten Anker-Steinbaukästen bestanden ab 1885 aus Proteinoplast. Die Kunsthistorikerin Renate Ulmer sagt über die ersten Kunststoffe: "Mit fieberhaftem Erfindergeist wurde in der Zeit der Weltausstellungen nach neuen Materialien gesucht, die teure und knapper werdende Naturprodukte wie Elfenbein und Schildpatt ersetzen sollten und die sich zur seriellen Produktion eigneten."

So entstanden Schreibgarnituren aus Ebonit und Füllfederhalter aus Hartgummi. Der - natürlich: böse - "Volksempfänger", Walter Maria Kerstings Radio aus dem Jahr 1933, wurde nur durch das verwendete Material Bakelit (Phenoplast) zum Massengut. Gut geeignet, klar, auch für die dann einsetzende Massengehirnwäsche à la Goebbels. Das bei Manufactum für 249 Euro erhältliche Wählscheibentelefon "W 48" erinnert übrigens noch immer an den beispiellosen Siegeszug der Bakelit-Kunststoffe. Von dort ist es nicht weit bis zu den ersten Kunststoff-Möbeln aus fiberglasverstärktem Polyester, die sich Ray und Charles Eames Ende der 40er-Jahre ausgedacht haben. Im Polyester-Rausch folgten: La Chaise - mehr atemberaubende Skulptur als Sitzmöbel (Eames, 1948); dann der "Tulip Chair" von 1956 (Eero Saarinen); oder der Fernseher "Nivico" aus ABS-Kunststoff, der aus dem Jahr 1970 stammt und aussieht wie ein Astronautenhelm. Die Zukunft war darin zu sehen - als Verheißung. Nicht als Bedrohung.

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Es war die Ölkrise von 1973, die der Euphorie ein Ende bereitete. Ein letztes großes Highlight des gebauten Plastik-Optimismus ist zu diesem Zeitpunkt das geniale Zeltdach (Acryl) des Münchner Olympiastadions, 1972. Danach ging es bergab in der Geschichte der Sehnsucht. Die gestiegenen Rohstoffpreise sowie die überfällige Einsicht in die Endlichkeit der Ressourcen begruben den Anything-goes-Traum. Experimente waren nicht mehr gefragt. Erst seit den 90er-Jahren kam es zum Kunststoff-Comeback des avantgardistischen Designs. Doch der technologische Fortschritt macht mittlerweile auch dies möglich: recycelbare Kunststoffe, etwa Polypropylen.

Die Gestalter von heute sollten also um ihre Verantwortung wissen, und die Kunststoffbranche um das, sagen wir, komplexe Image ihrer Materialien. Jener popschöne Traum von der Zukunft, der uns die Plastikkleider von Paco Rabanne und einen Satz von Andy Warhol geschenkt hat ("I want to be plastic"): Er ist dennoch zumindest dort in absehbarer Zeit vorbei, wo es nicht um Computerprozessoren oder künstliche Gelenke geht. Und dort, wo sich Kunststoffe partout nicht harmonisieren lassen mit einem Leben im Einklang mit der Natur, die mehr noch als unsere Träume unsere Lebensräume definiert.

Die gute Nachricht zum Schluss: Die Kommunen "chemisch sensitiver Menschen", die vor 50 Jahren vor der Synthetisierung in die Wüste geflohen sind, können zurückkehren und in den Woodcube ziehen. Man selbst würde sich dort ja statt hysterischer Kommunarden lieber La Chaise hinstellen.

© SZ vom 02.04.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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