La boule, das ist zunächst mal nur eine Kugel auf Französisch. Wer also vom Boulespielen spricht, könnte eine ganze Palette von Kugelspielen meinen, vom Boccia, für das man eine präparierte Bahn braucht, über Boule Lyonnaise, eine traditionsreiche Variante, die früher mit Holzkugeln gespielt wurde, die kunstvoll mit Nägeln beschlagen waren, bis zum Strandspiel mit bunten, wassergefüllten Plastikbällchen.
Die meisten Menschen meinen jedoch mit "Boulespielen", in Frankreich wie anderswo, die beliebteste Variante der jeux de boules, das Pétanque. Erfunden vor mehr als 100 Jahren, vermutlich im provenzalischen La Ciotat, hat es sich weltweit verbreitet. Zur Beliebtheit trägt bei, dass man es auf jedem Gelände spielen kann, auf Spazierwegen, Parkplätzen oder zwischen den Platanen eines Stadtparks. Die Ausrüstung besteht aus drei Metallkugeln, Gesamtgewicht circa zwei Kilo, und die Regeln sind perfekt für ein coronaverträgliches Sozialerlebnis - weshalb, so ist zu hören, so mancher Kugelhändler in Pandemiezeiten ausverkauft ist.
Zur liberté bei der Geländewahl kommt die egalité unter Spielerinnen und Spielern. Weder Geld noch Jugend noch Geschlecht bieten einen Vorteil. Man kann es bis ins hohe Alter spielen (dann eventuell mit Kugelmagnet am Schnürchen), und wer versucht, mit frisch glänzenden 300-Euro-Kugeln auf dem Platz zu punkten, gibt sich genau damit als Neuling zu erkennen: Wenn die Kugeln noch glänzen, wurde damit nicht viel gespielt.
Beliebter Anfängerfehler: Beim Werfen der Kugel ein Bein heben
Die Regeln sind simpel, was ja oft gute Spiele auszeichnet: Beide Parteien müssen einer kleinen Zielkugel, dem cochonnet (Schweinchen), mit ihren Kugeln möglichst nahe kommen. Wer im Laufe einer Partie dem Ziel häufiger am nächsten kam, gewinnt. Gespielt werden kann als Einzelduell (tête-à-tête), jeder mit drei Kugeln, was mangels Sozialfaktor eher eine Wettkampfvariante ist. Erst als Mannschaftskampf zwei gegen zwei (Doublette), jeder mit drei Kugeln, oder drei gegen drei (Triplette), jeder mit zwei Kugeln, entfaltet Petanque seine unendliche Vielseitigkeit - eine Mischung aus Taktik, Teamspiel, individuellem Können und, ja, auch Psychoduell.
Einen beliebten Anfängerfehler sollte man sofort vermeiden: beim Werfen der Kugel ein Bein zu heben. Das verbietet schon der Name des Spiels, das die Erfinder in ihrem Dialekt "a pes tanca" ("Füße zusammen") nannten, woraus das heutige Pétanque wurde. Man spielt ohne Anlauf und auch nicht von einer Linie aus, sondern in einem engen Kreis stehend oder hockend - mit beiden Füßen auf dem Boden. Das Schweinchen wird auf eine Distanz zwischen 6 und zehn Meter ausgeworfen, nach der ersten Kugel darf danach immer die Mannschaft werfen, deren Kugeln dem cochonnet gerade nicht am nächsten liegt.
Und schon mit der ersten Kugel beginnt die Taktik: Während Hobbyspieler jubeln, wenn sie einen biberon schaffen (ihre Kugel direkt ans Schweinchen zu legen), achten geübte Spieler darauf, dem Schweinchen zunächst nicht zu nahe zu kommen. Starke Gegner würden diese Kugel sofort wegschießen. Also: Gut 30 Zentimeter entfernt bleiben, und schon muss der Gegner sich die berühmte Frage stellen, die das gesamte Spiel prägt und deren intensive Abwägung schon Cäsars Legionäre in der Asterix-Episode "Tour de France", gestoppt hat, die Frage: Legen oder schießen?
Schießen oder legen? Das ist die Frage
Beim Legen ist es ideal, einerseits dem Schweinchen näher zu kommen als die Gegner, andererseits möglichst in der Nähe der Gegnerkugel zu bleiben. Entschließt sich der Gegner dann zum Wegschießen, trifft er womöglich das eigene Spielgerät. Gezählt wird, wenn jede Equipe ihre Kugeln gelegt oder geschossen hat. Ein Team bekommt so viele Punkte, wie sie Kugeln näher am Schweinchen hat als der Gegner. Dann beginnt die nächste Aufnahme, also die nächste Runde. Hat eine Seite 13 Punkte zusammen, ist das Match entschieden.
Die Begegnung in Triplettes, drei gegen drei, ist die komplexeste und spannendste Variante des Pétanque. Nicht nur müssen sich die drei Spielerinnen und Spieler einer Equipe über ihre Taktik verständigen, die Rollen sind auch klar verteilt: Pointeur, Tireur, also Leger und Schütze, die meist nur das tun, und der Milieu, der oft der beste Spieler ist und beides können muss. Zu den spannendsten Momenten gehört es, wenn sogar der Pointeur einer Triplette schießen muss, weil der Gegner penetrant gut gelegt hat. Das ist, als würde beim Fußball der Torwart zum Elfmeterschuss antreten.
Während das Pointieren der taktisch und haptisch filigranere Spielzug ist, macht ein perfekt sitzender Schuss mächtig Eindruck. Ein carreau sur place, bei dem die eigene Kugel das Eisen des Gegners frontal aus dem Flug trifft und an dessen Stelle liegen bleibt, löst Respekt und Beifall aus. Nicht selten ist dann zu erleben, wie der Gegner beim nächsten Wurf, den satten Knall des Volltreffers noch in den Ohren, kläglich versagt. Überhaupt, die Psyche: Eine beiläufige Bemerkung wie "Hui, unsere Kugel liegt jetzt gut im Weg" kann Wunder wirken. So etwas gehört, maßvoll eingesetzt, durchaus zum Repertoire einiger Könner. So wie der Tennisspieler, der vor dem Aufschlag einmal zu oft auf den Boden ditscht.
Während das Pointieren, also das Legen, enormen Variantenreichtum erfordert, mit Effet und Rückwärtsdrall, besteht die Kunst des Tireurs, des Schießens, vor allem in der Nervenstärke und Präzision, mit der man die gegnerischen Kugeln unter Beschuss nehmen muss.
Boulisten haben bisweilen eine bizarre Wurftechnik
Anfängern sei geraten, in den ersten Wochen stehend aus dem Wurfkreis aktiv zu werden, bis sich ein gutes Distanzgefühl eingeprägt hat, und später für das Pointieren in die Hocke zu gehen - aus einem simplen Grund: Das Terrain ist wesentlich besser zu sehen, Bodenwellen, Neigungen, herausragende Steine. Feuchtigkeit bremst, Asphalt beschleunigt. Im weiteren Verlauf gilt es den Effet zu meistern, zum Beispiel, um eine im Weg liegende Gegnerkugel zu umrunden. Noch später kommt die hohe Kunst dazu: das portée, bei dem man die Kugel im hohen Bogen direkt bis vor das Schweinchen wirft, wo sie dank einer weichen Stelle oder dank ihres Rückwärtsdralls liegen bleibt.
Mit der Zeit entwickeln die meisten Boulisten ihre ganz eigene, bisweilen skurrile Wurftechnik. Der eine richtet den Arm wie ein Militärgeschütz aus, der andere verbiegt seinen gesamten Körper wie eine Banane. Als unfein gilt, die Gegnerkugeln wegzuschießen, indem man das eigene Eisen wie beim Kegeln über den Boden schrabbt. Verboten ist es allerdings nicht. Und manchmal, siehe Psychotricks, ist genau das die Methode, um eine technisch überlegene Gegnermannschaft aus der Balance zu bringen.
Legen oder schießen - das ist übrigens auch die entscheidende Frage beim Kauf der eigenen Kugeln. Während Tireure eher unter 700 Gramm bleiben, glatte Oberflächen und etwas größere Kugeln bevorzugen, entscheiden sich Pointeure für schwereres Spielgerät (ca. 750 Gramm) mit Rillen, da diese besser im Terrain greifen. Für den richtigen Durchmesser gilt: Arm ausstrecken, Handrücken nach oben. Dann sollte die Kugel angenehm mit der halbrund gewölbten Hand zu halten sein.
Komplett sinnfrei sind übrigens die im Handel oft angebotenen 4er- oder 8er-Kugelsets: Das Spiel wird generell mit drei Kugeln und im Triplette mit zwei Kugeln gespielt, niemals mit vier. Hilfreich ist ein Wischtuch, nichts ist schlimmer als verstaubtes Metall, das aus der Hand flutscht, sowie ein Maßband. Anfänger werden staunen, wie oft das Auge trügt, wenn es um die Frage geht, welche Kugel dem Schweinchen am nächsten liegt. C'est l'ombre, qui trompe: Der Schatten trügt.
Mit diesen wenigen Utensilien sind dem Feierabendvergnügen im Stadtpark wie auch den Wettkampfambitionen in einem Verein keine Grenzen gesetzt. Mehr als 20 000 Spielerinnen und Spieler in Deutschland sind im Deutschen Pétanque-Verband organisiert, es gibt Landes- und Bundesligen wie auch eine deutsche Meisterschaft und die WM. Letztere wird übrigens nicht nur von Französinnen und Franzosen gewonnen. Siegreiche Mannschaften kamen schon aus Madagaskar, Tunesien und Belgien.
Ganz besondere Freude bereitet die fraternité mit Petanque-Begeisterten in der Ferne. Mit drei Kugeln in der Hand und einem Pastis in der anderen steht man plötzlich nicht mehr als Tourist auf einem südfranzösischen Dorfplatz. Doch Vorsicht, wer sein Können vom Münchner Hofgarten beim Concours in Sablet oder Vacqueyras einbringen will, bekommt kräftig eins auf die Mütze. Da bleibt es nicht aus, einen bizarren Brauch kennenzulernen: Geht eine Partie schmachvoll 13:0 verloren, wird unter lautem Gejohle "Fanny" auf den Platz getragen, das Bild oder die Statue einer drallen Dame mit entblößtem Hintern. Und diesen Hintern, tja, den muss man küssen. Möglichst würdevoll.
Immerhin darf man dabei den Pastis in der Hand behalten. Natürlich nicht das giftgrüne Zeug aus Paris. Nein, der gute Pastis kommt aus dem Süden, der Provängs, wie die Provenzalen in ihrem Dialekt sagen.