Es war ein geschichtsträchtiger Ort, an dem es an diesem Donnerstag viel um Alexander Zverevs Wohl ging. Von außen ist das Hotel Molitor gar nicht mal so imposant, wenig lässt erahnen, dass diese Stätte Architekturfreunde in aller Welt fasziniert. Im Innenhof ist das bekannteste Schwimmbad der Stadt, das sich leuchtend ins Art-Déco-Ambiente fügt. Weil Paris Paris ist, wurde es 1929 nicht einfach so für eröffnet erklärt, sondern der legendäre Johnny Weissmüller schaute vorbei. 1946 wurde hier der erste Bikini der Öffentlichkeit präsentiert, auch eine nette Fußnote, aber sehr viel später musste das Hotel geschlossen werden. Immerhin, dank einer Bürgerinitiative und nach geglückter Renovierung lebte das Molitor wieder auf.
Boris Becker bezieht gern sein Zimmer in dem Gebäude neben der Tennisanlage der French Open, er könnte viel erzählen über die Magie des hiesigen Designs. Aber diesmal ging es um seine Kernkompetenz, in einem gedämpften Raum im Sousparterre: Der berühmteste deutsche Ex-Spieler sollte erklären, was bei Deutschlands bestem Tennisspieler nicht rund läuft.
Der Sender Eurosport hatte zu einer Fragerunde mit einigen seiner Experten eingeladen, und so ergab sich die bemerkenswerte Situation, dass neben Becker auch die Instanzen John McEnroe und Mats Wilander in einem Raum standen - und der Reihe nach über Zverevs Lage grübelten. Sie meinten unisono: Er muss etwas ändern.
Becker, der auch beim Deutschen Tennis-Bund als Head of Men's Tennis fungiert, wurde am deutlichsten und kritisierte Zverevs Position auf dem Platz. Der 22-Jährige stehe zu weit hinten. "Ich denke, das ist seine Komfortzone. Als er mit Tennis begann und erste Erfolge auf Asche hatte, spielte er hinter der Grundlinie", erklärte Becker. "Im Fall einer Krise ziehen sich Menschen in ihre Komfortzone zurück. Und Zverev ist ein bisschen in der Krise."
French Open:Zverev macht's im Sprint, Petkovic im Krimi
Es geht doch für die deutschen Tennisspieler in Paris: Nach einigen Enttäuschungen zeigen Alexander Zverev und Andrea Petkovic in ihren Zweitrunden-Matches ihre Klasse.
Becker hält dieses Zurückfallen für den Hauptgrund von Zverevs 2019 auffälligem Straucheln. "Mit seinem Kampfgeist und seiner Einstellung will er Gegner niederringen, was gut ist. Die Frage ist nur: Wie lange gelingt ihm das und gegen wen?" Eine rhetorische Frage, denn für Becker steht fest, dass sich Zverev 2018 weiterentwickelt hat - "irgendwann aber wurde sein Spiel von den Gegnern erkannt, sie haben sich jetzt eingestellt auf diese Spielweise und haben eine Lösung gefunden. Und das macht ihm zu schaffen."
Der immer noch herrlich knautschige New Yorker McEnroe, einst ein Könner des Serve-and-Volleyspiels (und Pöbelns), hat Zverevs strategische Defizite räumlich etwas weiter vorne verortet. "Er hat alles, einen großen Aufschlag, harte Schläge von der Grundlinie", sagte der 60-Jährige, aber er sehe, dass sich Zverev am Netz nicht wohlfühle.
Dieses Unbehagen halte ihn davon ab, nachzurücken, wenn er aggressiv einen Punkt aufgebaut hat. Im Fußball hieße es: Zverev zögert im Umschaltspiel. "Er lässt sich dann plötzlich wieder für zehn Minuten zurückfallen", sagte Wilander, der hohe Autorität besitzt. Dreimal triumphierte der Schwede in Roland Garros, weil er sich damals wie kein Zweiter über Stunden katzengleich zu bewegen wusste. Komm vor statt Komfortzone? Der Blick der drei Altmeister ist insofern interessant, weil es bei den Erklärungsversuchen von Zverev selbst zuletzt oft um Themen abseits des Spiels gegangen war. Selten aber um das Spiel an sich. Auch in Paris hat Zverev sich nach seinem Fünfsatz-Auftaktsieg gegen den Australier John Millman durchaus schlüssig erklärt - zu anderen Aspekten. Der Turniersieg letzte Woche in Genf sei "extrem wichtig" gewesen, fürs Selbstvertrauen.
Nichts habe sich am Stand des juristischen Streits mit seinem Ex-Manager Patricio Apey geändert: "Das liegt jetzt ein bisschen in seiner Hand. Ob er etwas netter sein möchte und das schneller beenden möchte - oder ob er Probleme machen will." Einmal befand er nur: "Ich denke, dass ich in Ordnung spiele." Genau das sehen Becker, McEnroe und Wilander anders. Becker hat auch eine Ursache dafür ausgemacht, warum Zverev sich in einer diffusen Phase befindet: die Trainersituation.
Nun ließe sich Becker unterstellen, er verfolge Eigeninteresse bei diesem Thema, als ehemals erfolgreicher Coach von Novak Djokovic. Oft genug wurde er als potenzieller Coach von Zverev gehandelt. Aber er lachte und sagte, nein, er sei ausgelastet mit der Arbeit bei DTB und Sender. Auch in Paris tauchte jedenfalls, anders als seit Ende April angekündigt, Ivan Lendl als wichtiger zweiter Trainer neben Vater Zverev nicht auf. Zverev erklärte, nachdem er in Genf zugesagt hatte, habe man beschlossen, man werde erst zur Rasensaison wieder gemeinsam auf dem Platz stehen.
"Die Idealform ist sicherlich, dass der Trainer bei allen großen, wichtigen Turnieren an der Seite ist", sagte Becker. "Dazu gehört Paris, dazu gehört Rom, dazu gehört Madrid." Seinen Worten war zu entnehmen: Er hält dieses sporadische Arbeitsverhältnis für einen Fehler. Zverev gab immerhin zu: "Es wäre schon schön gewesen, wenn ich ein paar Trainingstage mit ihm gehabt hätte."
Aber warum kriegen sie, Profis in ihrem Metier, das dann nicht hin? Hat Lendl wirklich eine Pollenallergie, weshalb er nicht früher nach Europa reisen mag? Selbst langjährige Tennisbeobachter haben davon nie etwas gehört. Becker, der sonst einen guten Austausch mit Zverev pflegt, rätselte: "Warum Ivan nicht an seiner Seite ist, wissen nur Ivan und Sascha."
Am Donnerstag wurde Zverev dann aber auch gelobt von Becker. Während des Matches gegen den schwedischen Qualifikanten Mikael Ymer sagte der 51-Jährige on air: "Da hat er gelernt aus der ersten Runde." Der 6:1, 6:3, 7:6 (3)-Erfolg war am Ende knapper, als es sein musste, Zverev hatte in Satz drei 5:3 geführt. Auf die Kritik Beckers reagierte er danach gelassen und meinte: "Jeder hat seine eigene Meinung." Zudem verwies er darauf, sein Vater, Lendl und er würden es anders sehen. Großgewachsene Spieler wie er bräuchten "mehr Zeit für Schwünge". In der dritten Runde hat Zverev nun eine härtere Probe vor sich - er trifft auf den Serben Dusan Lajovic, für den er im vergangenen Jahr in der zweiten Runde fünf Sätze gebraucht hatte, ehe er ihn niedergerungen hatte. Dass von anderen Jungen, etwas vom Griechen Stefanos Tsitsipas, derzeit mehr erwartet werde als von ihm, gefällt Zverev übrigens - "total", wie er lachend versicherte.