Stuttgarts erster Saisonsieg:Ein Eigentor für die Geschichtsbücher

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Nichts mehr zu machen: Stuttgarts Ron-Robert Zieler kassiert gegen Bremen ein Einwurf-Eigentor. (Foto: Robin Rudel/imago)
  • Der VfB Stuttgart schafft trotz eines kuriosen Eigentors von Torwart Zieler gegen Werder Bremen den ersten Saisonsieg.
  • Dabei war Bremen trotz eines frühen Platzverweises gut im Spiel.
  • Der fast 40-jährige Claudio Pizarro erzielt beinahe ein Bundesligator.

Von Christof Kneer, Stuttgart

Nach dem Schlusspfiff wusste man gar nicht, wohin man schauen sollte. Auf den Stuttgarter Torwart Ron-Robert Zieler, der wie versteinert in seinem Strafraum stand und dann in einer Ansammlung Trost spendender Mitspieler verschwand? Auf den Stuttgarter Stürmer Nicholas Gonzalez, der fassungslos auf dem Rasen kniete und dann ebenfalls in einer Ansammlung Trost spendender Mitspieler verschwand? Auf den Stuttgarter Spielmacher Daniel Didavi, der platt auf dem Rücken lag und keinen einzigen Meter mehr laufen und keinen einzigen Pass mehr spielen konnte? Auf den Stuttgarter Sportchef Michael Reschke, der am Rasenrand den Siegtorschützen Gonzalo Castro umarmte, den er aus gemeinsamen Leverkusen Jahren kennt? Oder vielleicht auf Werders Torwart Jiri Pawlenka, der das Gesicht in seinen Handschuhen vergrub?

Am besten wäre es wahrscheinlich gewesen, man hätte auf gar nichts geschaut und einen versierten Maler beauftragt, das alles in ein riesengroßes Schlachtengemälde zu fassen. Man hätte es dann stundenlang anschauen und jedes Mal neue Details entdecken können, zum Beispiel jenen vergnügten Zug im Gesicht von Michael Reschke, der nach erfolgreich absolvierter Castro-Umarmung vielleicht schon mal durchrechnete, wie viele Siegerbiere er sich auf dem angrenzenden Cannstatter Volksfest wohl gleich leisten könnte. Unter das wilde Schlachtengemälde könnte man den nüchternen Titel setzen: "29. September 2018, VfB Stuttgart gegen Werder Bremen 2:1."

Jenseits von Zieler war da auch noch die Geschichte vom ersten VfB-Sieg der Saison

Die nackten Fakten waren am Ende nichts anderes als Fake News. Zwei-zu-eins, das klingt nach Bundesliga von der Stange, nach handelsüblicher Ware, tausendmal anprobiert in 55 Jahren Bundesliga. In Wahrheit war dies ein Spiel, wie es auch die gute, alte Bundesliga nicht allzu oft erlebt. So viele einzelne Geschichten steckten in diesem Spiel, jede für sich stark genug, um die Woche bis zum nächsten Spiel zu füllen - nicht nur die Geschichte von Zielers spektakulärem Eigentor, das in den in 45 Jahren zu veröffentlichenden Bildbänden "100 Jahre Bundesliga" einen Stammplatz haben wird. Ein Torwart, der einen Einwurf des eigenen Linksverteidigers reinrutschen lässt, weil er sich gerade die Schienbeinschoner richtet? Und der den Ball dann auch noch minimal berührt, was das Tor überhaupt erst gültig macht, weil direkte Einwurftore irregulär sind? Und der dann in philosophischer Anwandlung sagt: "Was man nicht sieht, kann man nicht halten."

Wirklich, Tante Bundesliga, Respekt: Wenn der sogenannte asiatische Markt darauf nicht anspringt, dann hat er echt kein Herz.

Jenseits von Zieler war da aber auch noch die Geschichte vom ersten Stuttgarter Saisonsieg, der erst mal den Job des Trainers Tayfun Korkut rettete. "Ganz, ganz, ganz viel" nehme man aus diesem Spiel mit in die nächsten Wochen, sagte der Sportchef Reschke und meinte damit mehr als die drei Punkte. Ebenso erzählenswert war die Geschichte von den Gästen aus Bremen, die nach der berechtigten gelb-roten Karte für Verteidiger Milos Veljkovic (36.) auf eine Art in Unterzahl spielten, die den eigenen Trainer begeisterte. "Richtig stolz" sei er auf seine Jungs, sagte Florian Kohfeldt, "wir haben in der Halbzeit beschlossen, dass wir jetzt nicht auf Konter lauern, sondern weiter dominant spielen wollen". Tatsächlich ließen die Bremer den Ball auch mit einem Mann weniger so souverän kreisen, dass der Trainer seinen sogenannten Jungs das Spiel lieber nicht noch mal zeigen sollte. Sie könnten sonst auf die Idee kommen, immer in Unterzahl zu spielen.

Auch die vordergründigen Ergebnisgeschichten waren also nicht so schlecht an diesem Nachmittag, der sich zum Beispiel so zusammenfassen ließ: Die Stuttgarter hätten viel, viel höher als 2:1 gewinnen müssen. Ach ja, und verlieren müssen hätten sie natürlich auch.

Stuttgart profitiert von einem goldenen Moment seiner besten Spieler

Solche Ergebnisse gibt es nicht so oft: Siege, die irgendwie verdient und gleichzeitig völlig unverdient sind. Die Stuttgarter durften sich in moralischer Hinsicht als rechtmäßige Besitzer dieser drei Punkte wähnen, weil sie sich trotz der jüngsten Negativserie tapfer in dieses Spiel hinein kämpften und durch einen goldenen Moment ihrer führenden Individualisten in Führung gingen: Spielmacher Didavi, trotz Achillessehnenproblemen in der Startformation, schickte den unwiderstehlichen Griechen Anastassios Donis auf die Reise, der von niemandem aufzuhalten war (19.). Auch das Eigentor von Torwart Zieler (68.) nutzten die Stuttgarter später nicht, um angemessen zusammenzubrechen - sie wankten, spielten aber unter Vernachlässigung des eigenen Schockzustands weiter nach vorn, was in Castros Siegtreffer mündete (75.). Und am Ende muss der Sieg doch verdient gewesen sein, wenn es statt 2:1 auch 5:1 hätte ausgehen können, oder? Der eingewechselte Argentinier Gonzalez vergab in der Schlussphase vier (!) Konterchancen, von denen nur die letzte eine sogenannte hundertprozentige war. Die vorherigen drei waren hundertzehnprozentige.

Aber der wirkliche verdiente Sieger wären natürlich die Bremer gewesen, die so offensiv wechselten, dass am Ende unter neun verbliebenen Feldspielern vier Stürmer waren (Kruse, Harnik, Pizarro, Kainz). Eggestein und Pizarro, der fast so alt ist wie die gute, alte Bundesliga, trafen zweimal den Pfosten des Stuttgarter Tores, es waren die Signale einer Mannschaft, die einen klugen Trainer und gleichzeitig das Selbstbewusstsein eines gelungenen Saisonstarts hat. Wobei: Die Bremer scheiterten ein paarmal auch an Torwart Zieler, übrigens.

Sonst noch was? An einem anderen Tag wäre auch Daniel Didavi eine Geschichte wert gewesen, der Rückkehrer, der auch angeschlagen immer für den entscheidenden Pass gut ist. Oder der rasende Donis, den sein Trainer aus unerfindlichen Gründen gerne auch die Bank setzt, obwohl das ein Spieler ist, wie ihn die halbe Liga sucht. Und nun, bittere Randgeschichte, hat sich Donis auch noch verletzt, ein Muskelfaserriss vermutlich, eine genaue Diagnose wird am Sonntag erwartet. Aber er wird auf jeden Fall ausfallen beim nächsten Spiel in Hannover, ebenso wie Dennis Aogo. Vermutlich: Muskelfaserriss.

Ja, der VfB ist jetzt drin in dieser Saison, aber es war ein teuer erkaufter Sieg. Immerhin gab es am Ende dieser turbulenten Materialschlacht noch ein letztes, rührendes Bild zu sehen: "Gonzalez, Gonzalez", riefen die Fans in der Kurve, sie wollten den 20-Jährigen trösten nach seinen vergebenen Hundertzehnprozentigen. Die Mitspieler schoben den widerstrebenden Stürmer dann rüber Richtung Kurve, und tatsächlich: Er hatte Tränen in den Augen.

© SZ vom 30.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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