Zehnkampf:Auf einer Wolke zum Weltrekord

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Kevin Mayer: Ganz oben angekommen (Foto: Nicolas Tucat/AFP)
  • Frankreichs Kevin Mayer gelingt in Talence ein neuer Zehnkampfweltrekord mit 9126 Punkten - nur drei Menschen haben jemals über 9000 Punkte geschafft.
  • Im August noch war Mayer als Favorit zur EM nach Berlin gereist, scheiterte dann aber an zu viel Risiko im Weitsprung.
  • Er kann darauf verweisen, dass er sich über zehn Jahre kontinuierlich an die Spitze seines Sports getastet hat - mehr mit Körpergefühl als mit Muskelkraft.

Von Johannes Knuth, Talence/München

Die Grußbotschaft des alten Weltrekordinhabers an den neuen ließ nicht lange auf sich warten. Und es passte, dass es dabei weniger um den Leistungsträger ging als um die Leistung. Er freue sich sehr für Kevin Mayer, den neuen Rekordmann, aber noch mehr für den Sport, teilte Ashton Eaton am Sonntagabend im Duktus eines weisen Großmeisters mit: "Mir war immer am wichtigsten, dass ich Grenzen verschoben habe und andere ebenfalls dazu inspiriere." Und wenn jemand am Wochenende eine Grenze in Eatons Metier verrückt hatte, dann war das wohl Kevin Mayer, 26, im französischen Mehrkampfmekka Talence.

9126 Punkte, so hoch ist also der neue Gipfel der Zehnkampfwelt. Erklommen von Mayer in einem Mehrkampf, den es so eigentlich gar nicht geben dürfte. Im Mehrkampf ist man ja fast immer am Ziel - aber nie ganz, weil während der zweitägigen Schinderei immer irgendetwas schiefgeht. Nur in Talence, da ging einfach nichts schief. Da schwebte Mayer durch die zwei Tage wie auf einer Wolke, "von der ich nicht mehr hinunterwill", wie er später sagte. In Zahlen manifestierte sich das so: 10,55 Sekunden über 100 Meter, 7,80 Meter im Weitsprung, 16,00 mit der Kugel, 2,05 im Hochsprung, 48,42 Sekunden über 400 Meter. Und an Tag zwei: 13,75 Sekunden über 110 Meter Hürden, 50,54 Meter mit dem Diskus, 5,45 im Stabhochsprung, 71,90 mit dem Speer, 4;36,11 Minuten über 1500 Meter. Macht 9126 Zähler, ein paar Stunden, nachdem der Kenianer Eliud Kipchoge beim Berlin-Marathon seine unwirklichen 2:01:39 Stunden in die Geschichtsbücher gemeißelt hatte. "Ich habe lange auf diesen Moment gewartet", sagte Mayer, "das ist einfach unglaublich."

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Dass er eine besondere Form mit sich führte, war schon länger klar. Mayer war im August als Favorit zur EM nach Berlin gereist, hatte das Stadion nach der zweiten Disziplin dann tränenerfüllt verlassen: Er hatte alle Versuche im Weitsprung mit vollem Risiko genommen und ungültig gemacht, weil er nicht irgendwie Europameister werden wollte, sondern mit einer Großtat. In Berlin ging das schief, Arthur Abele gewann (der in Talence Zweiter wurde und sich mit dem Sieg in der Mehrkampf-Saisonwertung tröstete, wie Carolin Schäfer bei den Frauen). Der Weltrekord aber, das hatte man schon in Berlin gespürt, würde bald fallen. Und wie Mayer das dann vollbrachte, war schon enorm. Er überbot Eatons Marke (9054) um 81 Zähler, so massiv hat seit 19 Jahren kein Zehnkämpfer einen Rekord verschoben. Schon gar nicht in der dünnen Höhenluft von 9000 Punkten, die erst drei Athleten erreicht haben: der Tscheche Roman Sebrle, Eaton, Mayer.

Auch der Franzose wird wohl noch eine Weile vom bekannten Zweiklang der affärengeplagten Leichtathletik begleitet werden: dass die größten Taten auch die größten Zweifel anziehen. Aber der 26-Jährige ist auch, nach allem was bekannt ist, mit einer großen Begabung für seinen Sport ausgestattet. Und er kann darauf verweisen, dass er sich über zehn Jahre kontinuierlich an die Spitze seines Sports getastet hat. Mayer siedelte 2008 nach Montpellier über, in die Trainingsgruppe von Bertrand Valcin. Valcin ist ein ehemaliger 400- und 800- Meter-Läufer, der sich mit vielen Disziplinen auskennt, aber damals nicht wusste, wie man einen Mehrkämpfer betreut. Er nahm Mayer trotzdem auf, weil der zwar wenige Muskeln, dafür aber etwas anderes hatte: ein gutes Körpergefühl, geschult von Tennis, Rugby, Handball und Leichtathletik, eine schnelle Lernbereitschaft, dazu zwei Augen, aus denen großer Ehrgeiz sprach. Man sei zusammen gewachsen, hat Valcin vor der EM in Berlin der französischen Zeitung La Dépêche gesagt, "ohne dass ich ihm je Grenzen gesetzt habe".

Die Zusammenarbeit warf bald erste Erträge ab, diverse Titel in der Jugend, 8447 Punkte, Mayer war damals erst 20. Er lernte von starken Trainingspartnern in Valcins Gruppe, dem Stabhochspringer Kevin Menaldo etwa, aber es dauerte, bis sie alle Puzzleteile beisammen hatten. Mayer sei sehr anspruchsvoll, er brauche immer und sofort eine Rückmeldung über sein Tun, das sei oft anstrengend, findet Valcin: "Ich musste oft sein Punchingball sein." Bei Olympia in Rio gewann Mayer Silber, dank eines Schauers von persönlichen Bestleistungen. Auch das sei eine Stärke Mayers, sagt Valcin: wie er sich an einem Großereignis berausche. Ashton Eaton, der in Rio schon einen olympischen Rekord benötigte, um Gold zu gewinnen (8893 Punkte), ahnte, dass er dort seinen Nachfolger erlebt hatte. Als Eaton sich nach Rio zur Ruhe setzte, schob sich Mayer sofort an die Spitze seines Gewerbes, vor einem Jahr wurde er Weltmeister. Und jetzt?

Wer so weit gekommen ist, blickt auf den schweren Pfad dorthin mit leichten Gedanken. Valcin lacht heute darüber, wie besorgt er war, wenn Mayer früher beim Basketball dunkte oder sich mit dem Surfbrett ins Meer stürzte. Er verstand, dass Mayer irgendwann von der Eintönigkeit des Trainingsalltags gelangweilt war (auch deshalb hatte er sich einst für den vielseitigen Mehrkampf entschieden). Und je mehr Mayer seinem Trainer vertraute, desto mehr vertraute der Trainer seinem Schüler. Am Ende sei es bislang ja immer so gewesen, sagt Valcin: "Kevin trifft die Entscheidungen. Und es sind fast immer die richtigen."

Anmerkung: In einer früheren Version des Artikels hieß es, dass Mayer den Weltrekord so massiv verbessert hat wie seit 49 Jahren kein Zehnkämpfer mehr. Tatsächlich war dies zuletzt vor 19 Jahren der Fall, als Tomas Dvorak die alte Bestmarke von Dan O'Brian (8891) auf 8994 Punkte steigerte.

© SZ vom 18.09.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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